Wie oft hören wir Ärzte diesen Satz in kritischen Situationen – und führen dann Behandlungen durch, die keine medizinische Indikation haben? Ein Plädoyer für mehr Mut, den unbequemen Weg zu gehen.
Es gib da diesen einen Satz, der mich seit Beginn meiner Tätigkeit als Notarzt und Intensivmediziner verfolgt:
„Aber der Patient/die Familie/die Angehörigen wollen, dass wir alles machen!“
Und der Satz meint: Wir finden das auch sinnlos, aber die Familie wünscht Maximaltherapie und da kann man nichts machen, deshalb müssen wir den Patienten jetzt intubieren, operieren, tracheotomieren und so weiter.
Und jedes Mal, wenn ich den Satz höre, seufze ich innerlich und manchmal auch hörbar ein bisschen mehr. Der Satz macht mich müde. Ich habe diesen Satz von Notärzten, Fachärzten und zuletzt sogar von dem leitenden Oberarzt einer Intensivstation im Nachbarort gehört.
Eine 95-jährige Dame stürzt aus innerer Ursache bei der Mobilisation aus dem Bett. Sie ist danach somnolent, wird vom Rettungsdienst in die Klinik gebracht. Hier stellt man eine Hirnblutung fest.
Es wird Kontakt zu einer Neurochirurgie aufgenommen. Die Patientin soll zur OP verlegt werden, es soll eine Drainage eingelegt werden. Die Patientin ist bereits stuhl- und harninkontinent, hat eine fortgeschrittene dementielle Entwicklung vom Alzheimertyp. Sie ist am Rollator in der Ebene für kurze Strecken mobil. Wir wurden zur Verlegung angefordert, da in der abgebenden Klinik keine operativen Kapazitäten vorhanden waren.
Nachdem ich zunächst noch sachlich argumentativ versuchte, dem Kollegen zu erklären, warum das grober Unfug ist, entgegnete er mir, dass er das ähnlich sähe (sic!) aber die Tochter sei Ärztin und wünsche eine Fortsetzung und Ausweitung der Maximaltherapie.
Da er einer Erklärung nicht zugänglich war, bin ich sehr zur Verwunderung der umstehenden Personen explodiert. Es ist das klassische Problem moderner Intensivmedizin. Man löst ein Problem und schafft tausend neue.
Nichts wird dadurch besser. Und vor allem – es ist falsch.
Es ist sicher ein echtes Dilemma der Intensivmedizin, das nahezu im Regelfall im Vorfeld durch die Patienten nichts zu einer solchen Situation geregelt wurde. Das heißt es gibt keine Patientenverfügung, keine Vorsorgevollmacht. Man geht also oft davon aus, dass die Patienten eine Behandlung wünschen. Begleitend treffen wir uns mit den nächsten Angehörigen zu einem Gespräch und versuchen Informationen zu bekommen, was unser Patient gewollt hätte. Dieses Vorgehen macht aber nur Sinn, wenn es eine medizinische Indikation für die Behandlung gibt!
Bevor wir uns nämlich fragen, ob der Patient eine Therapie wünscht, müssen wir Ärzte uns fragen, ob es überhaupt eine Indikation für die Therapie gibt.
Ich zitiere aus dem Positionspapier der „Sektion Ethik“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, der wichtigsten Fachgesellschaft in diesem Tätigkeitsfeld:
„Eine zulässige Behandlungsmaßnahme muss zwei Voraussetzungen erfüllen:
Erfüllt die jeweils geprüfte Behandlungsmaßnahme beide Voraussetzungen, muss die Behandlung eingeleitet oder fortgeführt werden. Liegt eine der beiden Voraussetzungen nicht vor, ist insoweit eine Therapiezieländerung und Begrenzung der Therapie nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten.“
Ich möchte das in DIN-A0 an die Eingangstür einer jeden Intensivstation tackern!
Diese Stellungnahme wurde von den führenden Intensivmedizinern Deutschlands unterzeichnet und hat damit bindenden Charakter. Das ist eigentlich auch nichts neues, das kann man so oder ähnlich in vielen Büchern, die sich mit rechtlichen Aspekten beschäftigen nachlesen.
In einfache Sprache übersetzt steht da:
Sind beide Punkte erfüllt, muss die Behandlung starten oder fortgesetzt werden. Aber (!!) – wenn der medizinische Sinn fehlt, darf die Behandlung nicht durchgeführt werden! Punkt eins und Punkt zwei sind nicht gleichberechtigt, sondern „ohne die eins keine zwei“. Da steht nicht „und“ und schon gar nicht „oder“ - da steht erstens und erst dann kommt zweitens.
Kein Arzt würde ohne das Einverständnis oder sogar gegen den Willen des Patienten eine Maßnahme durchführen. Bei der medizinischen Indikation ist es genauso – es wird aber regelhaft falsch gelebt! In der Stellungnahme steht auch: Ohne medizinische Indikation muss das Therapieziel geändert und die Therapie begrenzt werden – das ist dann nicht nur erlaubt, sondern auch notwendig.
Ich würde sagen, dass in 95 % der Fälle hier ein Antibiotikum angesetzt würde – aber selbst dafür fehlt die Indikation! Die fehlende Indikation liegt daran, dass die Behandlung zwar technisch machbar ist, aber die zugrunde liegende Erkrankung nicht heilbar ist und der Patient durch die Therapie nur unnötig belastet würde – auch durch ein Antibiotikum. Magen-Darm-Beschwerden, allergische Reaktionen, Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten – alles das ist möglich.
Medizinische Maßnahmen sind nicht aus sich heraus gerechtfertigt, sondern ihr Nutzen muss immer kritisch geprüft werden. Dass Herr Lehnert eine Maximaltherapie wünscht und sein Leben um jeden Preis verlängern möchte, ist in diesem Fall unwichtig.
Die ärztliche Kunst ist es, dem Patienten und den Angehörigen zu vermitteln: Hier geht ein Leben zu Ende, wir müssen das Therapieziel ändern.Man kann die Atemnot mit Medikamenten nehmen und Herrn Lehnert so ein möglichst würdevolles Sterben vielleicht sogar in seiner gewohnten Umgebung zuhause ermöglichen.
In dem Fallbeispiel ist es noch relativ klar, weil die Krebserkrankung definitiv zum Tod führt. Aber wie ist es bei anderen Erkrankungen, die nicht onkologisch sind?
Auch ohne eine Krebserkrankung kann bei chronischen, unheilbaren Erkrankungen wie Herzinsuffizienz oder COPD im Endstadium eine medizinische Indikation fehlen, wenn weitere Maßnahmen keine Heilung oder deutliche Verbesserung des Zustands mehr bewirken können.Der Fokus muss dann auf der Linderung von Leiden liegen und nicht auf einer belastenden Lebensverlängerung um jeden Preis.
Das Therapieziel muss in beiden Fällen nicht mehr „Leben retten“ oder „Lebenszeit verlängern“ lauten, sondern „Lebensqualität erhalten“. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass man eine möglichst gute Symptomkontrolle durchführt. Dies beinhaltet die großzügige Gabe von Schmerzmitteln, Medikamenten gegen Unruhe und Luftnot. Das kann in Ausnahmefällen zur Beherrschung der Akutsymptomatik auch eine intensivmedizinische Aufnahme beinhalten, diese folgt dann aber anderen Regeln als die sonst übliche Versorgung auf einer Intensivstation. Zum Beispiel können wir unkompliziert direkt mit einer Morphintherapie anfangen, was im ambulanten Setting erst mit der zeitaufwändigen Anbindung an ein Palliativnetzwerk möglich ist.
Es muss unbedingt vermieden werden, dass die Angehörigen das Gefühl haben, dass der von ihnen geliebte Mensch wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen wird! Dabei ist das Gegenteil der Fall – die bestmögliche, supportive Therapie ist manchmal deutlich aufwändiger und mit mehr Arbeit verbunden als eine Intensivtherapie. Das sage ich den Angehörigen auch genau so. Die bestmögliche, supportive Therapie erfordert ein individuell auf die Patienten abgestimmtes Konzept. Dies beinhaltet viele Gespräche mit den Angehörigen, eine laufende Anpassung der Therapie. Dagegen wirken die Intubation und Umsetzung einer Leitlinie manchmal deutlich einfacher. Da hat man einen festen Leitfaden, an dem man sich entlang hangeln kann.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum viele Kollegen „alles machen“. Auf eine Komplikation kann man einfach mit der nächsten Maßnahme reagieren, das erfordert deutlich weniger, individuelle Entscheidungen. Bis irgendwann nichts mehr geht und der Patient angeschlossen an ein Beatmungsgerät mit Katecholaminen im Anschlag auf der Intensivstation am Monitor sterben darf.
Ich finde, das kann es nicht sein.
Wir haben die Pflicht die Angehörigen mitzunehmen und auch sie aufzuklären, dass bei fehlender Indikation der Patientenwille eine untergeordnete Rolle spielt.
Also liebe Kollegen auf den Intensivstationen und den Notarztfahrzeugen dieses Landes: Wann immer jemand mit dem Scheinargument „aber XY will, dass wir alles machen“, stellt ihr die Gegenfrage: „Gibt es denn eine medizinische Indikation?“
Ohne Indikation keine Therapie. So einfach in der Theorie – so schwierig in der Durchsetzung. Seid mutig, „speak up“!
Verweist auf die DIVI. Habt keine Angst. Ihr schafft das!
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