In einem Moment erkläre ich dem hypochondrischen Herrn Müller, dass er heute Nacht nicht sterben wird. Im nächsten kümmere ich mich um den obdachlosen Klaus, der mal wieder mit Alkoholvergiftung im Park liegt. Nachts blicke ich in menschliche Abgründe.
Die Nacht hat die Stadt fest im Griff. Sie liegt da wie ein schlafender Riese, atmet kaum hörbar und träumt ihre Träume. Doch unter der Oberfläche pulsiert das Leben: In den Adern der Metropole fließt der Verkehr, und irgendwo dazwischen rast ein Rettungswagen entlang, ein winziger blinkender Lichtpunkt im nächtlichen Labyrinth unseres Reviers. Im Inneren des Wagens sitzen zwei Gestalten – wir, Notfallsanitäter. Die Dunkelheit hat unsere Gesichter verschluckt, nur unsere Augen reflektieren das Blaulicht, das über die Windschutzscheibe zuckt. Zwei Soldaten im Kampf gegen den Schmerz, zwei stille Wächter über das Leben. Unser Ziel: Lützelsteinerstraße, München-Freimann. Ein Hilferuf aus dem Nichts als Echo des Leids.
Hinter der Einsatzmeldung könnte immer eine akute Lebensgefahr oder nichts stecken – wobei meistens letzteres zutrifft. Oft genug entpuppen sich die Einsätze für uns als Fehlalarm, als spielte die Stadt mit uns Katz’ und Maus. Da ist Herr Müller, der Hypochonder, dessen Herz ein tickender Zeitmesser seiner Angst ist. In seiner Wohnung schlägt mir der Geruch von abgestandenem Kaffee und Einsamkeit entgegen. „Wie können wir helfen?“ „Ich glaube, ich sterbe jetzt. Mein Herz“, flüstert er, „es schlägt so langsam, ich spüre es kaum noch.“ Er führt uns in sein Wohnzimmer, ein Ort voller Nippes und vergilbter Fotos. Auf dem Couchtisch steht eine halbvolle Tasse Kaffee, daneben ein Blutdruckmessgerät. „Haben Sie Ihren Blutdruck schon gemessen?“, frage ich, während ich das EKG-Gerät vorbereite. „Ja, natürlich“, sagt er, „er ist viel zu niedrig. Ich glaube, ich sterbe.“ Herr Müller ist ein Meister der Selbstdiagnose, ein Experte für eingebildete Krankheiten. Ich erkläre ihm geduldig, dass Stress und Angst körperliche Symptome hervorrufen können, dass sein Herz aber völlig gesund ist. „Wirklich?“, fragt er mit einem Funken Hoffnung in den Augen. „Wirklich.“ bestätige ich, lächle und nicke ihm zu. Erleichterung macht sich auf seinem Gesicht breit. „Danke“, sagt er, „Sie wissen gar nicht, wie gut es tut, Sie zu sehen.“
„Sie sind die Einzigen, die mich noch besuchen kommen“
Oder Frau Schmidt, die alte einsame Witwe, deren Stimme in der Nacht nach menschlicher Wärme fleht. Auch sie hat nichts Körperliches, und ich muss ihr sagen, dass wir wieder fahren. „Bleiben Sie noch ein wenig?“, fragt sie. „Nur bis ich wieder eingeschlafen bin?“ Ich tausche einen Blick mit meinem Kollegen. „Wir können nicht bleiben, Frau Schmidt“, sage ich, „aber ich kann Ihnen gerne die Nummer des sozialpsychiatrischen Dienstes geben.“ Die Enttäuschung steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Ach“, flüstert sie, „Sie sind die Einzigen, die mich noch besuchen kommen.“ Wir verlassen die Wohnung mit dem Gefühl eines Steins im Magen. Die Einsamkeit dieser Frau hängt in der Luft wie stinkende Kloake. Draußen wartet die Nacht auf uns, und ich frage mich, wie viele Frau Schmidts es in dieser Stadt wohl geben mag.
Auch die Obdachlosenszene ist uns vertraut. Sie sind die Schatten der Stadt, bei dem Gedanken ist mein Blick auf die vorbeiziehenden Häuser gerichtet. Wir kennen ihre Gesichter, ihre Geschichten, ihre Narben. Oft sind es Bagatellen, manchmal aber auch Dramen, die sich in den Gassen abspielen. Alkoholvergiftungen, die Körper wie leblose Puppen zurücklassen. Unterkühlungen, die die Glieder erstarren lassen.
Im Park direkt ums Eck finden wir ihn zusammengekauert in einer Ecke, eingehüllt in dreckige Decken: Klaus, ein älterer Mann mit zerzaustem Bart und trüben Augen. Ich kenne ihn schon lange. Immer wieder landet er bei uns, mal wegen einer Alkoholintoxikation, mal wegen einer Unterkühlung. Was auf den ersten Blick wie ein Missbrauch des Notrufsystems erscheinen mag, offenbart bei näherem Hinsehen eine tiefe soziale Problematik unserer Gesellschaft.
Der Rettungswagen taucht in eine Seitenstraße ein, die Neonlichter eines Nachtclubs tauchen die Szenerie in ein unwirkliches Licht. Am Straßenrand stehen zwei Frauen, ihre Körper in knappe Kleider gehüllt, die Gesichter im Halbdunkel verborgen, beide kaum älter als zwanzig. Sie erinnern an exotische Nachtfalter, angelockt vom gleißenden Licht der Großstadt. Als unser Rettungswagen vorbeirollt, blicke ich der einen genau in die Augen. Ein kurzes Zunicken, ein Lächeln als stumme Begrüßung aus einer anderen Welt. Die eine ist mir nur zu gut bekannt: Sie heißt Imani. Ich habe sie gelegentlich behandelt und ihr geholfen, mal wegen einer Überdosis, mal wegen eines prügelnden Freiers, und dabei hat sie mir ihre Geschichte erzählt: Kindheit, Flucht aus einem grausamen Land ohne Menschenrechte im Kampf um ein besseres Leben. Und nun sind sie und ihre Kameradin Gefangene der Nacht und verscheuern ihre Körper, ihre Träume und ihre Sehnsüchte für ein paar Kröten an irgendwelche ekelhaften Typen. Jede von ihnen trägt eine Geschichte gleich einem Labyrinth aus Schmerz, Hoffnung und verlorenen Illusionen in sich. Wenn man genau hinsieht, erblickt man eine Mischung aus Trotz und Verletzlichkeit, eine stille Rebellion gegen die Härte des Lebens. Einen winzigen Moment, nachdem sich unsere Blicke gekreuzt haben, verschluckt die Nacht die Gestalten am Straßenrand.
Manchmal fühle ich mich nicht wie ein Notfallsanitäter, sondern wie ein Fährmann zwischen den Welten, irgendwo zwischen Einsamkeit und Hoffnung. Dann mache ich keine Medizin, sondern bekämpfe Probleme am Abgrund menschlicher Existenzen. Gerade die Empathie, die mich all diese Schicksale so intensiv spüren lässt, ist Fluch und Segen zugleich. Sie ist mein Feind, weil sie mich nicht kalt lässt, mir die Schattenseiten der Stadt nach Hause trägt und sich in meine Träume schleicht. Manchmal wünsche ich mir, einen Schutzschild zu haben, um die Emotionen abprallen zu lassen, die Distanz eines Pathologen zu gewinnen, der nur die Hülle sieht, aber nicht den Menschen. Doch gleichzeitig ist die Empathie meine Superkraft, die mich zu einem guten und menschlichen Notfallsanitäter macht. Sie lässt mich hinter die Fassade blicken und die versteckten Hilferufe erkennen, die zwischen den Zeilen stehen. Sie ermöglicht mir, wirklich da zu sein für die Menschen, ihnen nicht nur medizinisch, sondern auch menschlich zu helfen. Gerade in den Momenten, in denen die Grenzen zwischen Körper und Seele verschwimmen, ist es die Empathie, die den Unterschied macht. Sie ist das unsichtbare Band, das mich mit den Patienten verbindet, ein Funke menschlicher Wärme in der kalten Nacht der Großstadt.
Die Empathie ist meine Superkraft, die mich zu einem guten und menschlichen Notfallsanitäter macht
Der Rettungswagen kommt mit einem Ruck zum Stehen. Lützelsteinerstraße, Freimann. Jemand fuchtelt uns entgegen – diesmal ist es ein echter Notfall. Ein Mann liegt regungslos auf dem Gehweg, sein Körper ein dunkler Klecks auf grauem Asphalt. Wir springen aus dem Wagen, Katecholamine schärfen unsere Sinne. Jetzt zählt jede Sekunde. Die Stadt, die niemals schläft, hält den Atem an.
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