Die alte Frau liegt bewusstlos in ihrer Wohnung. Die Symptome? Uneindeutig. Eindeutig ist aber, dass wir sie unverzüglich ins Krankenhaus bringen müssen. Im CT zeigt sich, wie fatal ihr Zustand wirklich ist.
Wir rasen durch die Nacht, Lichter und Silhouetten fliegen vorbei wie verwirrte Geister. „Bewusstlose Person“, hieß es von der Leitstelle. Das kann vieles sein, aber selten etwas Gutes. Ein schmuckloses Hochhaus, die Alarmierung kam aus dem 5. Stock. Wo ist der verdammte Aufzug?
Wir finden ihn um zwei Ecken. Keine Zeit; wir hasten die Treppe hoch, der Defi und die Notfallrucksäcke ziehen bei jedem Schritt schwer wie Blei an uns. Vor der Wohnungstür wartet eine ältere Frau. Die unmenschliche Stunde und blankes Entsetzen stehen ihr ins Gesicht geschrieben: „Kommen Sie bitte“. Ja, wir kommen, immer.
Eine ältere Frau liegt auf dem Bauch – dazu etwas Blut, etwas Erbrochenes. Mein Blick streift kurz die Umgebung. Die Wohnung sieht mitgenommen, wenn auch nicht völlig heruntergekommen, aus. Ein älterer Mensch kämpft hier seinen schier aussichtslosen Kampf gegen den Verfall und das tägliche Chaos. Wir drehen die Dame auf den Rücken, ABCDE. Die Atemwege scheinen frei, sie atmet langsam und tief, ich höre links ein leichtes Rasselgeräusch – Aspiration? Die Sättigung liegt bei 83 %. Der Blutdruck ist bei 110/70, Herzfrequenz 53/Minute. Offenbar aktuell kein C-Problem. Parallel piepst das BZ-Gerät: Blutzucker 98.
Bei D sieht es finster aus: Die Patientin stöhnt auf, Schmerzreiz undefinierbar, ein Arm beugt sich ungezielt, ansonsten – nichts. Die Augen müssen wir ihr öffnen, die Pupillendifferenz ist unübersehbar. Das ist kein tiefes „sauberes“ Koma wie bei einer Intoxikation, das ist etwas anderes, Schlimmeres.„OK, haben das alle gesehen? GCS 6. Wir intubieren sie – jetzt.“
Die Intubation schaffe ich auf Anhieb, ein bisschen Erbrochenes sauge ich ab. Die Sättigung steigt schnell auf 96 %. Kurz durchatmen. Wir gehen die Differentialdiagnosen durch. „Welche Medikamente nimmt sie? Trinkt sie übermäßig Alkohol? Haben Sie vielleicht einen Arztbrief von ihr?“ Die Nachbarin vor der Tür verneint mit starrem Blick: „Aber ich kenne sie auch nicht so gut“. Hinweise in der Wohnung finden wir nicht. Kein Zungenbiss, kein Fieber. Ein bisschen trockene Zunge und stehende Hautfalten, aber nicht dramatisch. Urämie? Unwahrscheinlich. Im POCT-Sono ist die Vena Cava noch akzeptabel gefüllt. Das Blut kommt aus einer Kopfplatzwunde – mir scheint, die Patientin ist WEGEN Bewusstseinsverlust gestürzt und nicht andersherum, aber uns fehlen Zeit und Mittel das vor Ort zu klären. Wir hasten zum RTW; „time is brain“.
Dunkelheit - unterwegs zur Klinik (Quelle: _docjay)
Wenig später im CT: Ich stehe im Kontrollraum, routinierte Geschäftigkeit. Während ich übermüdet aufs Topogramm starre, poppen auf einem der Monitore die ersten Bilder auf. Und jetzt wird das ganze Ausmaß der Katastrophe klar. Sehr, sehr viel Blut. Im Ventrikel, Mittellinienverlagerung, am Hirnstamm – Blut überall. Die Neurochirurgen kommen, man diskutiert Coiling, Trepanation, ein Intensivbett wird organisiert.
Ich werfe einen letzten Blick auf den Rest dieses Lebens, kaum sichtbar zwischen Schläuchen, Kabeln und Monitoren. Mein Blick flackert, ein kurzer Schauer. Das geht nicht gut aus. Wir müssen weiter.
Eine akute Vigilanzminderung bis hin zum Koma ist ein Notfall. Für Patienten und Angehörige ist es dramatisch, da mit dem Bewusstseinsverlust Schutzreflexe und Muskeltonus beeinträchtigt werden, Stürze, Aspirationen und Respiratorische Insuffizienz können folgen. Und das Umfeld steht meist hilflos daneben – man kann nicht fragen, was los ist, wo sind die Beschwerden, was funktioniert nicht? Nichts, der Mensch verschwindet einfach in der Dunkelheit.
Man teilt diese quantitative Bewusstseinsstörung in
Die Tiefe der Bewusstseinsstörung ordnet man mit der GCS (Glasgow Coma Scale) ein, die aber keinen Hinweis auf die Ursache gibt. Davon abzugrenzen sind qualitative Bewusstseinsstörungen wie Bewusstseinstrübung, Bewusstseinseinengung und Bewusstseinserweiterung – hier liegen meist neuropsychiatrische Ursachen vor, aber auch internistische Erkrankungen und Intoxikationen können ursächlich sein.
Notfall- und Intensivmediziner müssen in allen Fällen viele Differentialdiagnosen berücksichtigen; das Akronym „AEIOU TIPS“ gibt eine gute Gliederung:
Die Ursachenfindung ist im Rettungsdienst unter Zeitnot in einem völlig fremden Umfeld nicht minder kompliziert als in der Notaufnahme. Die Anamnese ist DER Schlüssel zur Diagnose, in vielen Fällen (wie oben) kommt man kaum an die Informationen. Die Unfähigkeit der deutschen Gesundheitspolitik, für alle eine elektronische Patientenakte bzw. eine einsehbare Notfallkartei mit Medikation, letztem Arztbrief, Allergien und Diagnosen einzuführen, ist hier noch fataler als sowieso schon.
Essenziell sind neben der Anamnese das Erkennen von fatalen Warnzeichen. Diese „Red Flags" deuten auf eine lebensbedrohliche zugrunde liegende Ursache hin und erfordern sofortiges Handeln. Im aktuellen Fall lagen (vermutlich) ein perakuter Beginn, eine Pupillomotorikstörung und neurologische Defizite vor – Hinweise auf die großen Katastrophen wie Basilaristhrombose, Hirnblutung oder Ischämie.
Red Flags bei akuter Vigilanzminderung (Quelle: Ärzteblatt)
Ein fataler Mythos hält sich hartnäckig: „Nicht intubieren und keine Narkose, damit der Neurologe die Symptome unverfälscht begutachten kann.“ Das ist bei vitaler Gefährdung natürlich Blödsinn, die Sicherung von Atemwegen und Kreislauf hat oberste Priorität – nicht ohne Grund heisst es ABCDE – und nicht DABCE-Schema…
Danach führt der Weg immer in ein Akutkrankenhaus mit sofort verfügbarer zerebraler Bildgebung, Notaufnahme, Intensivstation, internistischer und neurologischer Expertise, bei möglichem Trauma auch einer Neurochirurgie. Sinnvoll ist hier das Konzept eines „internistischen Schockraums“ analog zur klassisch traumatologischen Schockraumversorgung. Hier kann die nötige Diagnostik zügig und koordiniert eingeleitet werden.
Neben der unmittelbaren zerebralen Bildgebung gehören eine Blutgasanalyse mit Glukose- und Elektrolytbestimmung (ein tragbares Gerät hätte ich mir vor Ort gewünscht…), ein breites Routinelabor und toxikologische Untersuchungen zum Standard. Dann kann ohne Zeitverzug die möglicherweise lebensrettende Therapie eingeleitet werden – denn die Mortalität ist hoch.
Und meine Patientin? Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht, sie verstarb am frühen Morgen an ihrer intrazerebralen Massenblutung. Ein mahnendes Beispiel, wie gefährdet solche Patienten auch bei einwandfreier Versorgung sind.
Bildquelle: Cassi Josh, Unsplash