In der Tiermedizin wird es nie langweilig – das sieht man besonders auf Kongressen. Welche Rolle Praxismanagement, mentale Gesundheit und 3D-Druck aktuell spielen und bei welchem Tier der Augenfächer zum Problem werden kann, erfahrt ihr hier.
In einer Menschentraube laufe ich letzten Donnerstagmorgen dem Messe-Eingang entgegen. Ich freue mich immer wieder, zurück in meine Studienstadt zu kommen – diesmal für den bpt-Kongress 2024 und drei Tage volle Ladung praktische Tiermedizin. Der vom Bundesverband Praktizierender Tierärzte (bpt) organisierte Kongress fand dieses Jahr zum letzten Mal zusammen mit der Eurotier statt, einer weltweit bekannten Messe für professionelle Tierhaltung, die von der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (DLG) getragen wird.
Da ich selbst schon einige Jahre nicht mehr praktisch tätig bin, bin ich gespannt, was die Kliniker umtreibt und welche Themen die Branche bewegen. Und – so viel will ich schon mal verraten – ich mag den Spirit, den die Vorträge und Diskussionen dieses Jahr transportieren.
Am Donnerstag lausche ich zunächst den Vorträgen zur Praxisführung. Hier merkt man: Es geht auch in der Tiermedizin immer mehr um KI und Digitalisierung in der modernen Tierarztpraxis. Und nicht nur möchten Tierärzte digitaler werden, endlich nehmen sie sich auch dem – meiner Meinung nach überfälligen – Thema der professionellen Praxisführung an. Denn die klassische Gemischtpraxis, die oft einer One-Man-Show (oder eher mittlerweile One-Woman-Show) glich, gehört in vielen Teilen Deutschlands schon länger der Vergangenheit an. Viele Tierärzte mussten in den letzten Jahren schmerzlich erkennen, dass eine Person eben nicht mehr Praxisgründer, IT-Spezialist, Personaler, Apotheker, Marketing-Profi und noch der fähigste Tierarzt und Chirurg in einem sein kann. Zumindest nicht, wenn sie all diesen Aufgaben gerecht werden will.
Beim Kongress stellte also ein sympathisches Vater-Tochter-Gespann, bestehend aus Daniel und Christiane Meister aus Bayern vor, wie eine angestellte Praxismanagerin dem Tierarzt extrem viel Arbeit abnehmen kann und größere Praxen somit in der Lage sind, deutlich effektiver zu arbeiten. Er, immer wieder von seiner Tochter als sogenannter „Silberrücken“ bezeichnet, ist erfahrener Tierarzt vom alten Schlag, sie ist jung-dynamische Praxismanagerin und kümmert sich unter anderem um Organisatorisches, die Personalführung und das Marketing der Praxis. Als Zuhörer bekommt man zumindest den Eindruck, dass das ganz gut funktioniert und in einer Fragerunde stellt sich heraus, dass einige Anwesende ebenfalls bereits mit Praxismanagern arbeiten – und damit sowohl Effizienz als auch die eigene Lebensqualität steigern konnten.
Daran schloss Doreen Meyer nahtlos an und stellte dem Saal vor, wie sie zusammen mit einer Partnerin ihre Praxis in Chemnitz leitet. Was mir in beiden Vorträgen auffällt: Mittlerweile ist in der Tiermedizin angekommen, dass eine Praxis wie ein Unternehmen geführt werden muss und man hier nicht nur die Buchhaltung, sondern insbesondere in Zeiten von Fachkräftemangel auch die Personalführung aktiv gestalten sollte. Regelmäßige Mitarbeitergespräche, Feedbackrunden und ein professionelles Beschwerdemanagement scheinen sich langsam zu etablieren. Damit passt sich die Branche an den Fachkräftemangel, die hohe Personalfluktuation und die gestiegenen (bürokratischen) Anforderungen an – und findet Lösungen. „Endlich!“ will ich begeistert rufen.
Am Nachmittag wechsle ich den Saal, es wird praktischer. Nun geht es um Wildtiere und wie man sie als Tierarzt richtig versorgt. Rüdiger Korbel stellte im Rahmen einer Dissertation erstellte Tutorials vor, die es bald für Tierärzte sowie für Feuerwehr, Tierrettungen und Jäger auf der Seite der Wildtierhilfe Bayern geben wird. Online kann man sich dort nicht nur Tipps für das praktische Handling und die Pflege eines der aufgeführten Wildtiere holen, sondern ebenso Anleitungen für empfohlene Medikamente, Dosierungen und Applikationsformen. Das Tool geht bald online, ist interaktiv, sehr anschaulich gestaltet und scheint mir eine nützliche Soforthilfe für die Praxis zu sein. Ein Link des Bereiches für medizinische Laien kann in Zukunft als Quelle sicher gut an besorgte Finder eines Wildtieres herausgegeben werden.
Augenhintergrund (optische Kohärenz-Tomographische (OCT) Aufnahme, rechtes Auge (OD), Mäusebussard) mit Augenfächer, Credit: Rüdiger Korbel
In seinem anschließenden Vortrag zum Anflugtrauma bei Vögeln gab es faszinierende Einblicke in das Vogelauge, inklusive Fun Facts für das nächste Tier-Quiz. So haben Vögel zum Beispiel einen Augenfächer (Pecten oculi), der oberhalb der Eintrittsstelle des Nervus opticus entspringt, weit in den Glaskörper hineinragt (siehe Bild) und nach einem Kopftrauma ins Auge bluten kann. Er versorgt die gefäßlose Netzhaut mit Nährstoffen, kann aber bei Traumata zur Gefahr für das Vogelauge werden.
Herbert Tomaso vom Friedrich-Löffler-Institut (FLI) klärte anschließend über die Verbreitung der Tularämie auf, warum die Zoonose beim Menschen mit der Pest verwechselt werden kann und wieso das FLI Erreger wie die Francisellen in Deutschland regelmäßig genotypisiert und monitort – es handelt sich nämlich um einen potenziellen Biowaffenerreger.
Bei der Kongresseröffnung am Abend verlor der neue Präsident der Tierärztlichen Hochschule Hannover ein paar Worte ans Publikum und Dr. Suzan Flack vom Bundesinstitut für Risikobewertung erzählte in einem anschaulichen Gastvortrag, wie schwierig Wissenschaftskommunikation in Krisenzeiten sein kann. Was außerdem verkündet wurde: Die Traditions-Fachzeitschrift Der Praktische Tierarzt wird ab Januar 2025 den Titel Die Praktische Tierärztin tragen.
Am Freitag war ich gespannt auf eine Veranstaltung, die ich so auf einem Tierärztekongress noch nicht gesehen hatte: Die Rolle von Mental Health in der Tiermedizin. Zunächst erklärte dort der aus Österreich angereiste Psychologe Wolfgang Neuwirth etwas über das Imposter-Syndrom. Mein Eindruck: Fast jeder im Raum schien sich zumindest in ein paar der Punkte wiederzufinden. Als nächstes stellten Karim Montasser und Jana Dickmann ihr noch recht junges Projekt Vetivolution vor, eine gemeinnützige Organisation, die online Supervisionsgruppen für Tierärzte und Studenten organisiert. In der anschließenden Diskussionsrunde hatte ich tatsächlich Gänsehaut. Denn neben Studenten, die von ihren persönlichen Erfahrungen und Herausforderungen mit dem Thema mentale Gesundheit berichteten, meldeten sich auch erfahrene Praxisinhaber mit persönlichen Statements zu Wort. Sie berichteten, wie sie das Thema nie ernst nahmen, aber von ihren jungen Mitarbeitern lernten und somit auch ihre eigene Situation verbessern konnten. Für mich herrschte dort eine besondere Atmosphäre und ich war bewegt davon, dass dieses Thema nun endlich – bei Jüngeren und Älteren – auch in der Tiermedizin angekommen ist und ernst genommen wird.
Beim Round Table über die immer mehr zur Belastung werdende Bürokratie in der Tiermedizin gab ein Tierarzt mit Gemischtpraxis anschauliche Einblicke in die – zum Teil völlig realitätsferne – Abrechnung in der Praxis. Hier scheint es ähnlich wie in der Humanmedizin langsam darauf hinauszulaufen, dass die Bürokratie langsam zu einem ernsthaften Problem für Praktiker wird – und es braucht schnell eine Lösung, da sind sich alle Anwesenden einig.
Bei meinem nachmittäglichen Ausflug in die Messehalle der Eurotier lerne ich etwas über moderne Sensoren zum Tracking von Kälbern (sie funktionieren ähnlich wie Fitness-Tracker beim Menschen und liefern dem Halter frühzeitig Hinweise auf ein gesundheitliches Problem) und dass diese auch auf dem weltweit größten Milchviehbetrieb in der Wüste Saudi-Arabiens im Einsatz sind. Die Kühe stehen dort übrigens permanent in einem Wasser-Nebel, denn Milchkühe finden warme Temperaturen normalerweise gar nicht mal so gut. Für mich eine absurde Vorstellung.
Am Samstag wird es zum Abschluss nochmal modern: Prof. Peter Böttcher demonstrierte die Herstellung und Verwendung von OP-Schablonen aus dem hauseigenen 3D-Drucker, Prof. Holger Volk und sein Team stellten ein neues Projekt zur Erfassung und Verbesserung der Fehlerkultur in der Tiermedizin vor und Kristina Strecker vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) gab ein Update zu aktuellen und künftigen Vorgaben von Antibiotikameldungen. Die derzeitig unsichere Lage im deutschen Bundestag macht es hier natürlich nicht leichter absehbar, wann und was sich im frisch überarbeiteten Tierarzneimittelgesetz (TAMG) tatsächlich ändern wird. Wer hier auf dem Laufenden bleiben will, dem sei die Info-Seite des BVL ans Herz gelegt.
Tierarzt Björn Becker und Jurist Jan Ehlers liefertenn sich am Nachmittag ein Battle um den unterhaltsamsten Vortrag – KI und Digitale Tools in der Praxis vs. rechtliche Aspekte in der Telemedizin – wobei Björn Becker mindestens beim Sprechtempo gewann, das wurde in der anschließenden Diskussionsrunde lächelnd von einem anwesenden Tierarzt hervorgehoben.
Mein Eindruck auch hier wieder: Eine moderne und digitale Praxis ist möglich. Ich bin gespannt, wohin sich die praktische Tiermedizin in den nächsten Jahren entwickeln wird. Abgehängt wirkte sie jedenfalls auf dem diesjährigen Kongress auf mich keinesfalls. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg.
Bildquelle: Getty Images, Unsplash