In der Impfsprechstunde fühle ich mich manchmal wie bei einem Wunschkonzert: Der Patient fordert eine unnötige Impfung, lehnt die wichtigen aber ab. Ich frage mich, ob ich ihm zu der Bestellung noch Pommes und ein kleines Getränk reichen darf.
Kürzlich in der Tropenmedizin-Sprechstunde: Eine große Reise nach Südost-Asien, China, Mongolei und Russland ist geplant.
Patient: „Haben Sie Impfstoff gegen Japanische Enzephalitis?“
Ich: „Nein, leider seit mehreren Wochen nicht mehr lieferbar.“
Patient: „Oh Gott, ich MUSS diese Impfung haben! Fragen Sie in GANZ DEUTSCHLAND nach, unsere Reise können wir nicht verschieben.“
Ich: „Ich versuche mein Bestes, ein bisschen Zeit haben wir noch. Lassen Sie uns mal über die anderen Impfungen sprechen, die wir noch empfehlen würden. Für Sie wären noch FSME und Typhus, aber auch eine Grippe-Impfung wirklich sinnvoll. Und haben wir schon über Dengue-Fieber gesprochen?“
Patient: „Ne, ne, ne. FMSE? Das ist doch das mit den Zecken? Brauche ich nicht. Mit Typhus wird mir das zu viel mit den Spritzen. Und Grippe lasse ich mich sowieso nie impfen, das bringt nichts und man bekommt ja direkt Grippe, wenn man sich impft! Können Sie die Japanische-Enzephalitis-Impfung jetzt besorgen?“
Äh OK, klar. Soll ich die Impfung kurz warm machen? Möchten Sie Pommes dazu? Und welches Getränk …?
Geht es nur mir so oder sind die Prioritätensetzungen bei vielen Patienten merkwürdig? Manchmal erinnert mich das an ein Restaurant, wo man sich herauspickt was einem gefällt. Aber Impfungen sind doch keine Tapas.
Leben und leben lassen – jeder kann natürlich frei entscheiden. Grundsätzlich ist es ja gut, wenn man sich gegen Japanische Enzephalitis schützen will – und die Besucher einer Impfsprechstunde sind meistens keine völlig faktenbefreiten Verschwörungstherorie-Anhänger. Dennoch sehe ich oft ein Über- und gleichzeitig völliges Unterschätzen einzelner Risiken und habe noch nicht wirklich herausgefunden, warum das so ist:
Häufige Kandidaten, die zuverlässig total unterschätzt werden sind auch Malaria – siehe die 5 Mythen zur Malaria – und Tollwut, denn „die Impfung hat viel zu krasse Nebenwirkungen“. Ja, aber Tollwut ist auch krass tödlich …
Auch für Profis ist es nicht immer leicht, hier transparent, umfassend und wohlwollend zu beraten. Zum einen muss man die Krankheiten, vor denen man sich schützen will, sehr gut kennen. Und dann ist es natürlich essenziell zu wissen, wie häufig diese überhaupt auftreten.
Typhus wird durch Salmonella Typhi ausgelöst und oral/fäkal übertragen.Vorkommen: Weltweit, Endemiegebiete sind Südostasien und Katastrophengebiete sind in LMIC (low and middle income countries).Inzidenz bei Reisenden: Etwa 20:100.000 (regionale Inzidenzen bis 300:100.000). Das Risiko steigt bei Langzeitreisen wie der hier geplanten.Gefährlich? Mortalität ohne Behandlung bis zu 20 %! Antibiotisch therapierbar, dann unter 1 %, jedoch nicht trivial durch zunehmende Resistenzen.Schutz: Die Impfung schützt zu ca. 55 %.
Japanische Encephalitis (JEV) ist eine Flavivirus-Erkrankung, die vor allem saisonal über Stechmücken übertragen wird.Vorkommen: Endemiegebiete sind Indien, Südostasien, China und relativ neu auch Australien.Inzidenz bei Reisenden: Etwa 1,8:100.000 in Endemiegebieten.Gefährlich? 99 % der Infektionen verläuft asymptomatisch. Die 1 % symptomatischen Fälle sind unangenehm: Jeweils ein Drittel heilt folgenlos aus, trägt bleibende neurologische Schäden davon oder stirbt.Schutz: Es gibt einen sehr zuverlässigen Impfstoff, Schutz deutlich über 90 %.
FSME ist ebenfalls eine Flavivirus-Erkrankung, die Übertragung erfolgt durch Zecken.Vorkommen: Es gibt drei Subtypen: Europäisch, sibirisch und fernöstlich. Endemiegebiete sind demzufolge ganz Europa, China, Mongolei mit Fokus auf Osteuropa und Russland.Inzidenz bei Reisenden: Etwa 1,6:100.000 in Endemiegebieten.Gefährlich? Europäischer Typ milder (< 2 % schwere Verläufe), fernöstlicher Subtyp häufig schwererer Verlauf (Letalität 20–40 %), chronisch-progressive Form oder tödliches hämorrhagisches Fieber möglich.Schutz: Sehr zuverlässiger Impfstoff, Schutz deutlich über 90 %.
Influenza ist ein Orthomyxovirus, es gibt drei Typen (A, B, C) und jeweils Subtypen (A wird nach Oberflächenproteinen benannt, B hat zwei Linien), jedes Jahr zirkulieren andere Typen.Vorkommen: Weltweite EndemiegebieteInzidenz bei Reisenden: Ca. 1.000:100.000 (!)Gefährlich? Meist mild, schwere Verläufe mit Pneumonie, Myokarditis und Encephalitis bei Risikofaktoren tödliche Verläufe möglich. Systemerkrankung, das Risiko für kardioembolische Komplikationen ist kurzzeitig während und nach der Infektion 5–10-fach erhöht!Schutz: Wirksamkeit des Impfstoffs schwankt stark je nach Saison, ca. 29–48 %.
Wie berät man die Patienten gut? Das epidemiologische Bulletin 14/2024 des RKI liefert hier wertvolle Informationen. Außerdem gab es 2023 eine Studie im Journal of Travel Medicine, die die Häufigkeiten von impfpräventablen Infektionen bei Reisenden gut und verständlich aufarbeitet.
Monatliche Inzidenzen von impfpräventablen Erkrankungen bei Reisenden. Credit: Steffen et al.
Hurra! Die Studie und die logarithmische Grafik finde ich goldwert, weil man damit endlich solchen etwas irrationalen Prioritätensetzungen seitens der Patienten mit Fakten begegnen kann.
Wenn man die Gefährlichkeit der Erkrankung ebenfalls berücksichtigt, kann man praktische 4- bzw. 9-Felder-Tafeln erstellen. Auch das hilft enorm, um bei Beratungen eine gute Basis zu haben und am Ende zusammen eine sinnvolle und rationale Entscheidung für und wider zu treffen. Hier ein Beispiel vom RKI, wie so etwas für einen immungesunden und gegen die Krankheit nicht-immunen jungen Westeuropäer aussehen kann – Covid-19 und Dengue fehlen leider darauf:
Häufigkeit und Gefährlichkeit von impfpräventablen Erkrankungen in LMIC. Credit: RKI
Im aktuellen Fall: Im Idealfall ist man natürlich gegen alle Risiken geimpft. Eine perfekte Welt gibt es aber nicht und Lieferengpässe sind leider an der Tagesordnung. Die FMSE-Impfung ist angesichts des häufigen und oft fatalen fernöstlichen Subtyps wirklich dringlich zu empfehlen. Typhus ist im Verhältnis etwas weniger gefährlicher, da kausal behandelbar – aber in Asien ebenfalls sehr häufig. Auch über das häufige Dengue-Fieber sollte man sprechen. Die Grippe-Impfung ist wegen der noch um ein Vielfaches höheren Häufigkeit sinnvoll.JEV hat weder diese Häufigkeit noch diese Gefährlichkeit – im Vergleich. Hier in der Grafik finde ich das etwas irreführend, da die hohe Letalität korrekt ist, aber nur auf die symptomatisch Erkrankten – auf einen von 250 – zutrifft. Ja, die Impfung ist sinnvoll, aber ich hätte diese konkrete Reise eher wegen fehlender FSME- als wegen nicht-lieferbarer JEV-Impfung abgesagt …
Bildquelle: Karolina Grabowska, Unsplash