Die Einführung der elektronischen Patientenakte wird von vielen Seiten mit Sorge betrachtet. Häufig übersehen dabei: Insbesondere in der Forschung kann sie helfen – mit der größten Sammlung an deutschen Gesundheitsdaten.
Deutschland befindet sich derzeit laut Bundesgesundheitsminister Lauterbach in einer „Aufholjagd bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens“, die aber nicht zulasten der Qualität gehen darf. Zentrales Kernstück für sein Rennen: Die elektronische Patientenakte, die ab kommendem Jahr zur Pflicht im System wird.
Um die elektronische Patientenakte ranken sich derzeit sehr kontroverse Diskussionen. Der Großteil der Argumente beschäftigt sich mit Problemen bei der Implementierung und mit möglichen Behinderungen im Praxisablauf. Was bei diesen Auseinandersetzungen über die Komplexität der Umsetzung zu stark in den Hintergrund rückt, sind die Chancen für eine wissenschaftlich fundierte „Medizin der Zukunft“, von der „Forschung und Ärzteschaft profitieren.“ Hierzu gehört die forschungsmäßige Auswertung von Krankheits- und Therapiedaten, so wie sie außerhalb experimenteller Studien, also in der realen Welt auftreten (Real World).
„Real-World Evidence“ (RWE) klingt vielleicht wie ein Fachbegriff aus der Pharmaforschung, aber die Prinzipien sind für uns alle relevant. Von einer ursprünglich in der Marktforschung eingesetzten Methode hat sich RWE heute zu einem unverzichtbaren Instrument in allen Bereichen der medizinischen Forschung entwickelt. Randomisierte klinische Studien (RCT), immer noch der Goldstandard der klinischen Entwicklung, sind zwar sorgfältig strukturiert, um die Sicherheit und Wirksamkeit der teilnehmenden Patienten zu gewährleisten, können jedoch oft nicht die Komplexität der Medizin in der realen Welt widerspiegeln. Sie können nicht immer die Vielfalt der Begleiterkrankungen oder die Variabilität der Behandlungen berücksichtigen, da die Medizin nur zum Teil auf wissenschaftlichen Fakten, aber auch teilweise auf Erfahrung und Tradition sowie auf finanziellen Zwängen basiert. Im Gegensatz zu RCT kann Real-World Evidence die medizinische Realität genauer widerspiegeln.
In USA sind elektronische Patientenakten seit 2016 gesetzlich vorgeschrieben (21st Century Cures Act), was die Analyse von Daten erlaubt, die ausdrücken, was in der medizinischen Praxis tatsächlich passiert. Laut dem Office of the National Coordinator for Health Information Technology (ONC) verfügen 96 % der US-Krankenhäuser und 78 % der niedergelassenen Ärzte über elektronische Gesundheitsakten (zum Vergleich, im Jahr 2011 nur 28 % der Krankenhäuser und 34 % der Ärzte). Deshalb ist es leicht zu erklären, dass die USA regelmäßig die meisten RWE-Publikationen veröffentlichen. Dies ist auf die starke Nutzung elektronischer Gesundheitsakten, und auf die Zusammenarbeit zwischen der Pharmaindustrie, Wissenschaft und Gesundheitsdienstleistern zurückzuführen.
Die Langzeitbeobachtung und Erfassung klinischer Ergebnisse ist für viele unbeantwortete Fragen der klinischen Medizin ein vielversprechender Anwendungsfall für RWE – insbesondere wenn klinische Studien zu komplex und zu kostspielig sind. So zeigten Real World Daten, dass Wirksamkeit und das langfristige Überleben von Krebspatienten in der Realität geringer sind als in Phase-3-Studien versprochen. RWE kann zur Klärung von Behandlungsparadigmen beitragen und möglicherweise medizinische Leitlinien ändern. So zum Beispiel die Risiko-Nutzen-Bewertung von Aspirin zur kardiovaskulären Prävention oder den Einsatz von Betablockern nach einem Herzinfarkt. Eine neue Strategie, bei der GLP-1-RA vor Endoskopien vorübergehend pausiert werden, um das Risiko einer Aspirationspneumonie zu senken, ist ein Beispiel dafür, wie RWE Studien in der Praxis schnell zu einer höheren Sicherheit medizinischer Verfahren beitragen können. RWE kann auch bei der Optimierung von Behandlungen helfen, indem es auf der Dosis-Wirkungs-Kurve das beste langfristige Gleichgewicht zwischen Wirksamkeit und Sicherheit findet. In Kombination mit künstlicher Intelligenz können RWE Patienten mit Krebsrisiko bis zu 18 Monate vor der Diagnose identifizieren, was eine erhebliche Verbesserung gegenüber aktuellen Screening-Systemen darstellt.
Zulassungsbehörden wie die FDA sind nicht nur offen für RWE (Einhaltung von Qualitätsstandards vorausgesetzt), sondern setzen sie bei Zulassungsentscheidungen auch aktiv ein. Bereits 2017 genehmigte die FDA ein neues Verfahren für einen transkatheteralen Aortenklappenersatz (TAVR) und wertete dabei eine Datenbank mit mehr als 100.000 TAVR-Aufzeichnungen aus. Im Jahr 2021 genehmigte die FDA eine neue Indikation für Prograf (Tacrolimus) auf Grundlage von RWE aus einer nicht-interventionellen Studie.
Analysen von RWE können die Risiken von medikamentösen Leberschäden besser quantifizieren als Einzelfallmeldungen: In elektronischen Krankenakten von fast 8 Millionen Patienten des U.S. Department of Veterans Affairs wurden 1.739 (0,02 %) stationäre Einweisungen wegen schwerer akuter Leberschäden identifiziert. Diese Daten erlaubten eine bessere Eingrenzung von potenziell lebertoxischen Medikamenten auf rund ein Dutzend mit dem höchsten Potenzial für Leberschäden. Die höchsten Inzidenzen von 86 Lebertoxizitätsereignissen pro 10.000 Personenjahren zeigten ein Reverse-Transkriptase-Hemmer zur Behandlung von HIV.
RWE eröffnet damit eine neue Ära der medizinischen Forschung und des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Voraussetzungen dafür sind allerdings eine reibungslose und fehlerfreie Einführung der ePA, einschließlich auswertbarer strukturierter Datenfelder, damit Deutschland in der „Aufholjagd bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens“ mithalten kann.
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney