Sollten Fachgesellschaften sich politisch engagieren? Und ähneln sich neurologische Erkrankungen mehr als bislang gedacht? Darüber wird gerade auf der DGN-Konferenz diskutiert. Wir sind für euch vor Ort.
Die diesjährige Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Neurologie findet unter dem Motto „Neurologie trifft Immunologie“ statt. Doch neben dem aktuellen Forschungsstand in der Neuroimmunologie ist auch die Frage, wie politisch Fachgesellschaften sein sollten ein Hauptthema auf dem Kongress.
Bei dem gewählten Schwerpunkt des Kongresses soll es ausdrücklich nicht nur um die „klassischen“ neuroimmunologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose gehen, wie Kongresspräsident Prof. Sven Meuth auf der Pressekonferenz erklärt. „Wir haben in der Vergangenheit gelernt, dass auch nicht primär immunologische Erkrankungen von Entzündungsreaktionen betroffen sind.“ Beispielsweise kann ein Schlaganfall zu einer Unterversorgung von Nerven führen, wodurch das Immunsystem getriggert wird und diese Entzündungsreaktion kann schlussendlich zu Nervenschäden führen.
Prof. Sven Meuth
Der Blick auf die immunologischen Aspekte neurologischer Erkrankungen bietet auch neue Chancen, erklärt Meuth weiter. Denn bisher werden neurologische Erkrankungen klar voneinander abgegrenzt. „Betrachtet man aber die dahinterliegenden pathophysiologischen Mechanismen, erkennt man frappierende Ähnlichkeiten“, betont Meuth. Als Beispiel nennt er eine aktuelle Studie, die S100A8 (MRP-8) und S100A9 (MRO-14) untersucht hat. Diese Proteine werden von Neutrophilen und Monozyten freigesetzt und sind bei vielen neurologischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Schlaganfall, Parkinson oder auch Alzheimer deutlich erhöht. Deshalb kommen sie sowohl als mögliche Biomarker, als auch als Therapie-Targets in Frage.
Dadurch, dass die Wirkmechanismen verschiedener neurologischer Erkrankungen grundlegend ähnlich sind, eröffnet sich auch die Möglichkeit des Drug Repurposing, erkärt Meuth. Das hat den großen Vorteil, dass diese Medikamente bereits zugelassen sind und dadurch viel schneller für weitere Erkrankungen zugelassen werden können als komplett neue Medikamente. Auch daran wird bereits geforscht, es gibt bespielweise Studien (hier und hier), die das MS-Medikament Natalizumab nach einem Schlaganfall eingesetzt haben. Allerdings waren die Versuche bisher nicht erfolgreich. „Da es bereits mehrere Studien zu anti-inflammatorischen Therapien nach einem Schlaganfall gab, die in der Vergangenheit allesamt keinen signifikanten Effekt auf das Outcome der Patienten erbringen konnten, sind diese neuen Studien ebenfalls mit Zurückhaltung zu betrachten“, ordnet unser Neuro-Experte Pascal Rappard ein. „Nichtsdestotrotz handelt es sich beim Schlaganfall um die häufigste Ursache für bleibende Behinderungen im Erwachsenenalter und neue Therapieoptionen sind dringend erforderlich. Daher ist es sinnvoll, die Forschung in alle Richtungen voranzutreiben.“
Die bewegte politische Woche geht auch an dem DGN-Kongress nicht spurlos vorbei. Das Thema der Eröffnungsveranstaltung lautet „Wie immun ist unsere Demokratie?“ und stellt die Fragen, wie sehr Politik die Medizin beeinflusst und inwieweit sich Fachgesellschaften politisch positionieren sollen. Dabei ging es zum einen um fehlendes Vertrauen in die Forschung. Die stellvertretende Präsidentin des DGN, Prof. Daniela Berg erklärt: „Die Glaubwürdigkeit in die wissenschaftliche Integrität ist eine Grundlage.“ Weiter betonte sie: „Ein Wissenschaftler muss zweifeln: Das ist eine unserer Kernaufgaben!“ Dazu gebe es auch eine ganze Reihe von Richtlinien und Wissenschaftskodexen, sei es vom DFG, vom Risiko- und Sicherheitsministerium oder der WHO. „Es ist eine absolut wichtige Botschaft: Natürlich hält sich die Mehrzahl der Wissenschaftler an diese Vorgaben.“
Prof. Lars Timmermann
Doch gerade in der breiten Bevölkerung nehmen die Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen zuletzt vermehrt zu. Und genau das sei ein Grund, warum der politische Aspekt auf dem DGN-Kongress auf die große Bühne gehöre, erklärt Meuth: „Müssen wir nicht politisch aktiv werden, wenn gewisse politische Strömungen unsere Fachlichkeit, unsere Wissenschaftlichkeit in irgendeiner Weise beeinflussen?“ Denn die Auswirkungen sind schon jetzt spürbar, wie DGN-Präsident Prof. Lars Timmermann sagt: „Politisch müssen wir ganz klar sagen: Die fetten Jahre sind vorbei. Wir werden mit weniger Ressourcen – was Finanzausstattung angeht – trotzdem hohe Leistung erbringen müssen.“ Deshalb plädiert auch er für ein politisches Engagement „in dem Bereich, in dem es uns etwas angeht. Wenn Kritik an Wissenschaft dazu führt, dass es weniger öffentliche Forschungsgelder gibt und (…) wir nicht mehr so forschen können, wie wir das wollen, müssen und auch sollten, dann geht es uns plötzlich schon etwas an.“
Neben den Forschungsgeldern macht sich Meuth auch Sorgen über einen zunehmenden Fachkräftemangel: „Wenn wir hier eine Stimmung haben, die dafür sorgt, dass ausländische Fachkräfte nicht mehr zu uns kommen, dann haben die Fachgesellschaften ein ganz klares Problem.“ Deshalb plädiert er: „Wir haben sowohl als Gesellschaft, aber auch als Individuen, einen großen Reach (dt. Reichweite, Anm. d. Red.) und damit auch eine Verantwortung, die Demokratie zu wahren.“
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