Cannabis wird seit Jahrtausenden in verschiedenen Kulturen zur Linderung von Schmerzen und zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt. Im 20. Jahrhundert ist eine der ältesten Heilpflanzen der Welt in der Versenkung verschwunden – heute erlebt sie eine Renaissance. Die Akzeptanz von Medizinalcannabis steigt global stetig, sowohl unter Medizinern als auch Patienten. Dies spiegelt sich auch in Deutschland wider: Das 2017 eingeführte Gesetz „Cannabis als Medizin“ sowie die jüngste Änderung, Cannabisverordnungen nicht mehr auf Betäubungsmittelgesetz-Rezept zu verordnen, verdeutlichen diese Entwicklung. Doch noch gibt es einiges zu tun.
Während die Forschung in einigen medizinischen Anwendungsbereichen von Cannabis noch in einem frühen Stadium steckt, hat sich die Pflanze in der Schmerzmedizin bereits als wirksames Mittel etabliert[1]. Prof. Dr. Sven Gottschling, Chefarzt des Zentrums für altersübergreifende Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Uniklinikum Saarland, arbeitet bereits seit 2000 mit Medizinalcannabis und betont: „In der Schmerzmedizin gibt es mittlerweile eine gute Datenlage. Diese zeigt, dass Cannabinoide bei chronischen, insbesondere neuropathischen, Schmerzen eine wirkeffektive und nebenwirkungsärmere Alternative zu herkömmlichen Therapien darstellen können. Und das in vielfältigen Anwendungsgebieten.“ Beispiele dafür sind Endometriose, rheumatische Erkrankungen wie Arthritis oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa.[1]
Eine Pflanze, viele Wirkstoffe
Die Inhaltsstoffe der Pflanze interagieren Gottschling zufolge mit dem körpereigenen Endocannabinoidsystem, einem komplexen Netzwerk von Rezeptoren, das an der Regulierung von Schmerz, Entzündungen und anderen physiologischen Prozessen beteiligt ist. Gottschling: „In fast allen Geweben sind derartige Rezeptoren zu finden, was für ein enormes Potenzial der Pflanze spricht. Deutschland allein hat über 20 Millionen Schmerzkranke, von denen viele von einer Behandlung mit Cannabis profitieren könnten.“ Neben den beiden Hauptwirkstoffen sind, so Gottschling, in der Cannabispflanze mehr als 100 weitere Cannabinoide enthalten, von denen viele trotz Wirkhinweisen noch nicht ausreichend oder gar nicht erforscht sind. Gottschling erklärt die Wirkweise vereinfacht: „Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD), die bekanntesten Cannabinoide, wirken unterschiedlich und ergänzen sich in ihrer Wirkung. THC ist vor allem schmerzlindernd und hat psychoaktive Eigenschaften, während CBD entzündungshemmend wirkt, ohne dabei Rauschzustände hervorzurufen.“ Auch die Anwendung spielt eine Rolle bei der Wirkweise. Die wohl bekannteste Form ist die Inhalation der Blüten mit einem Vaporisator. Bei dieser Methode setzt die Wirkung nach circa fünf bis acht Minuten ein, lässt laut Gottschling aber dann verhältnismäßig schnell wieder nach. Hier kommen Vollspektrum-Extrakte ins Spiel, die oral in Tropfen- oder auch Kapselform eingenommen werden. Sie werden aus den Blüten gewonnen und enthalten ebenso die in der Pflanze vorkommenden Phytocannabinoide, Terpene und Flavonoide. Diese Inhaltsstoffe wirken gemäß Gottschling synergistisch zusammen und können den „Entourage-Effekt“ hervorrufen, der die therapeutische Wirkung verstärkt. „Ein großer Vorteil der Extrakte ist, dass die orale Einnahme eine konstante Wirkstoffversorgung bietet und die Dosierung einfach angepasst werden kann. So ist sie für die meisten der richtige Weg.“ Besonders geeignet seien die Extrakte dem saarländischen Mediziner zufolge für Menschen, die unterschiedliche Mengen an THC und CBD zu verschiedenen Tageszeiten benötigen.
Patienten öffnen sich für die Cannabis-Therapie
Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Akzeptanz der Cannabis-Therapie: Die Patienten öffnen sich immer mehr für diese Entwicklung. „Der Unterschied zu 2017 und davor ist heute schon enorm. Früher musste ich Cannabis als Therapieform selbst vorschlagen, da waren meine Patienten teilweise noch zurückhaltend und skeptisch. Heutzutage kommen die Menschen von sich aus mit dem Thema auf mich zu und sind schon vorab sehr gut informiert. Doch noch finden zu viele Menschen keinen Arzt, der bereit ist, sich mit diesem komplexen Thema und dem Papierkram dazu auseinanderzusetzen.“ Um Cannabis als Therapieform in Anspruch nehmen zu können, müssen nämlich bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Die Erkrankung muss schwerwiegend sein und es dürfen keine zumutbaren Behandlungsalternativen mehr verfügbar sein. Zusätzlich ist die Aussicht auf eine positive Wirkung auf den Krankheitsverlauf oder die Symptome entscheidend. Zwar benötigen 16 Facharztgruppen sowie fünf Zusatzbezeichnungen, darunter Palliativmedizin und spezielle Schmerztherapie, keine Genehmigung mehr, gewisse Risiken wie Regressforderungen bei Auslassen einer anderen Therapieoption bleiben aber.3 „Da hätte ich mir ein anderes Modell gewünscht, zum Beispiel eine Form der Weiterbildung“, sagt Gottschling. Zudem ist die Antragsstellung mit einem hohen Aufwand verbunden. „Hier läuft es wohl darauf hinaus, dass sich Fachärzte und Experten in Spezialzentren zusammenfinden, um eine professionelle und umfassende Betreuung anzubieten. So könnte der Zugang zu dieser Therapieform für noch mehr Menschen erleichtert und ermöglicht werden.“
1 Metaanalyse, 33 randomisierte kontrollierte Studien, neuropathischer Schmerz, nozizeptiver Schmerz, Cannabis vs. Placebo, Vergleich der analgetischen Wirksamkeit
Quelle: Wong et al., Analgesic Effects of cannabinoids for Chronic Non-cancer Pain: a Systematic Review and Meta-Analysis with Meta-Regression. J Neuroimmune Pharmacol. 2020 Mar 14
2 FAQ „Cannabis als Medizin“ des Bundesministeriums für Gesundheit
Quelle: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/c/cannabis/faq-cannabis-als-medizin (letzter Zugriff am 30. August 2024)
3 Pressemitteilung: Genehmigungsvorbehalte bei der Verordnung von medizinischem Cannabis: G-BA regelt Ausnahmen
Quelle: https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/1200/ (letzter Zugriff am 30. August 2024)