Noch hungrig oder schon satt? Forscher haben nun entschlüsselt, wie Neuronen im Gehirn das Sättigungsgefühl steuern – und dabei sogar die Mahlzeiten in Etappen einteilen. Ein Ausblick für die Therapie von Essstörungen?
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Die Rolle des Hypothalamus als zentralnervöser Regulator vegetativer Organfunktionen steht seit Jahrzehnten im Fokus der Neurowissenschaft. So unterliegt auch der ureigenste Selbsterhaltungsinstinkt, die zum Ablauf aller lebensnotwendiger Organfunktionen erforderliche Energiezufuhr durch Nahrungsaufnahme, seiner Kontrolle. Wie für andere angeborene Verhaltensweisen auch verarbeitet der Hypothalamus zur Regulation des Hunger- und Sättigungsgefühls verschiedene Signale chemischer, sensorischer und kognitiver Natur.
Blutzuckerspiegel, aktueller Organbedarf, Magenfüllungszustand, Körpertemperatur, Tageszeit – Informationen über etliche, den momentanen Energiebedarf bestimmender Parameter laufen im Hypothalamus zusammen. Wenngleich die hoch komplexen, von unzähligen physiologischen Signalen und externen Sinneseindrücken beeinflussten Mechanismen der Hunger- und Sättigungskontrolle noch längst nicht in Gänze verstanden sind, hat sich der Laterale Hypothalamus (LH) als relevante Schaltzentrale des orexischen Netzwerks herauskristallisiert. Dass LH-Läsionen zum drastischen, im Extrem zum Tod führenden Verweigern der festen und flüssigen Nahrungsaufnahme führen können, haben bereits Arbeiten Mitte des 20. Jahrhunderts an Rattengehirnen gezeigt.
Umgekehrt induzieren LH-Stimulationen eine überbordende Nahrungsaufnahme. Mittlerweile hat die Neurowissenschaft eruiert, dass diese Wirkungen durch funktionell und neurochemisch unterschiedliche Neuronen vermittelt werden, die appetitanregende oder Nahrung verweigernde Signale aus dem Hypothalamus, dem basalen Vorderhirn sowie dem Rhombencephalon empfangen.
Die besondere Bedeutung verschiedener, in ihrer molekularen Identität unterscheidbarer Neuronenpopulationen für die Regulation der Nahrungsaufnahme hat die neurophysiologische Forschung erst innerhalb der letzten fünf Jahre aufgedeckt. Wechselwirkungen innerhalb und zwischen diesen neuronalen Clustern sind offenbar für die Anpassung der Nahrungsaufnahme an aktuelle homöostatische Verhältnisse und sensorische Signale hoch relevant.
Studiendaten über eine andere Hypothalamusregion, den Nucleus paraventricularis, haben Hinweise geliefert, dass unterschiedliche neuronale Subpopulationen bei der Nahrungsaufnahme in zeitlicher Abfolge ineinandergreifen und auf diese Weise an der Steuerung aufeinanderfolgender Phasen der Nahrungsaufnahme (Beginn – zunehmende Sättigung – Beendigung) beteiligt sind. Auch in einer afferenten Hirnstammregion des Hypothalamus wurden verschiedene Neuronencluster identifiziert, die orosensorische sowie gastrointestinale Spannungssignale verarbeiten und zeitlich koordiniert den Sättigungszustand über Aussendung negativer Rückkopplungssignale vermitteln. Ungeklärt ist bis dato die Frage, ob auch der LH Neuronenpopulationen aufweist, die Essphasen-spezifisch aktiviert werden und ob diese gegebenenfalls auch in andere angeborene Verhaltensweisen involviert sind.
Belegt durch Signalableitungen, erfolgt die Kommunikation innerhalb und zwischen Nervenzellverbänden, die mit der Nahrungsaufnahme assoziiert sind, über koordinierte rhythmische Gamma-Oszillationen. Neurophysiologen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und vom Kölner Max Planck-Institut für Stoffwechselforschung haben jüngst mittels KI-gestütztem Spectral Clustering die Aktivitätsdynamiken verschiedener Neuronenpopulationen des LH im Verlauf der Nahrungsaufnahme unter die Lupe genommen.
Ziel der Arbeit war es, die zeitlichen Veränderungen der Aktionspotentialfrequenzen („Feuerraten-Dynamik“) verschiedener LH-Neuronencluster zu analysieren, sie womöglich verschiedenen Phasen der Nahrungsaufnahme zuzuordnen und überdies von anderen angeborenen LH-gesteuerten Verhaltensweisen abzugrenzen. Dazu wurden die neuronalen Aktivitätsmuster im LH während der Nahrungsaufnahme sowie während weiterer angeborenen Verhaltensweisen – Erkundung und soziale Interaktion – ermittelt. Die erforderlichen Hirnstromableitungen und Stimulationen wurden an Mäusen durchgeführt, deren Hypothalamus anatomisch und funktionell dem menschlichen sehr ähnlich ist.
Über die Analyse der Feuerratendynamik im LH erfassten die Wissenschaftler zum einen bestimmte Neuronenverbände, die wie ein „Grundrauschen“ während der gesamten Nahrungsaufnahme homogen aktiv sind. Darüber hinaus identifizierten sie vier abgegrenzte Neuronencluster, die streng sequenziell nur in einzelnen, einander ablösenden Phasen feuern und damit eine Mahlzeit in vier Abschnitte (Beginn – frühe Phase – späte Phase – Beendigung) unterteilen. Diese bislang unbekannte „funktionale LH-Neuronen-Parzellierung“ erinnert an einen Staffellauf, bei dem jeder Läufer nach Absolvierung seiner Distanz und Übergabe des Staffelstabes an den nächsten Aktiven seine Belastung herunterfährt.
Was die „Neuronen-Staffel“ von der sportlichen unterscheidet, ist die offenbar unterschiedliche Signalgewichtung, an der die verschiedenen sequenziellen Neuronencluster ihre Aktivität ausrichten. Wenn beispielsweise Cluster 1 stärker auf sensorische Signale (Duft, Aussehen der Nahrung) reagiert, Cluster 2 eher Blutzucker-sensibel arbeitet, Cluster 3 für hormonelle Signale (Orexin) besonders empfänglich ist und im Cluster 4 womöglich die von den Dehnungsrezeptoren der Magenwand eingehenden Signale die höchste Gewichtung erfahren, erhöht das die Stabilität des Gesamtsystems. Hinreichend analysiert sind diese unterschiedlichen Gewichtungsmuster aber noch nicht.
Die neuronalen Aktivitätsanalysen der nicht zur Nahrungsaufnahme gehörenden Verhaltensweisen – Erkunden und soziale Interaktion – zeigten, dass hier nicht nur andere LH-Neuronenverbände aktiv sind, die keine streng sequentiellen Aktivierungsmuster aufweisen, sondern, dass diese auch in einem anderen Frequenzbereich (schnelle Gamma Oszillation) feuern als die mit der Nahrungsaufnahme assoziierten LH-Neuronen. In letzteren scheinen langsame Gamma-Oszillationen in einem übergeordneten Modus ernährungsbezogene Cluster aufeinander abzustimmen, was auf einen Mechanismus für die langfristige Regulierung der Nahrungsaufnahme hindeutet.
Die aufgedeckte sequenzielle Phasenaktivität verschiedener LH-Neuronenpopulationen im Verlauf einer Mahlzeit scheint ein wichtiger Regulationsmechanismus für die Aufnahme einer ausreichenden, aber nicht übermäßigen Energiemenge zu sein. Zur Vermeidung von Störsignalen aus anderen Verhaltenskreisen „funken“ die mit der Nahrungsaufnahme assoziierten Neuronencluster in einer eigenen Frequenz im Bereich langsamer Gamma-Oszillationen. Die in den einzelnen Neuronenclustern unterschiedliche Gewichtung der verschiedenen eingehenden Signalqualitäten (sensorisch, hormonell, mechanisch) macht das System weniger störanfällig.
Kommt es dennoch zu Fehlern in der Kommunikation innerhalb und/oder zwischen den sequentiell aktiven Neuronenclustern, könnte dies nach Ansicht der Studienautoren der Entwicklung von Essstörungen in beide Richtungen – von Anorexie bis Binge Eating – Vorschub leisten. Trifft dies zu, nährt das die Hoffnung, zukünftig über externe Stimulation (z. B. mittels oszillierender Magnetfelder) aus dem Takt geratene Neuronencluster wieder den richtigen Rhythmus bringen zu können und damit der psychotherapeutischen und pharmakologischen Behandlung von Essstörungen ein nicht-invasives Verfahren der gezielten Neurostimulation zu Seite zu stellen. Bis dahin ist es jedoch noch ein langer, viel Forschungsarbeit erfordernder Weg.
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Quellen:
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