Viele Erkrankungen gehen mit einem erniedrigten Vitamin-D-Spiegel einher. Patienten profitieren jedoch meist nicht von einer vorbeugenden Einnahme des Vitamins. Dies bestätigen zwei kürzlich veröffentlichte Studien. Weitere Untersuchungen laufen noch.
Der menschliche Organismus braucht ausreichend Vitamin D für starke Knochen. Das Prähormon, das der Körper unter Sonneneinstrahlung zum Großteil selbst produziert und in geringen Mengen mit der Nahrung aufnimmt, ist außerdem an zahlreichen weiteren Vorgängen beteiligt. Daher verwundert es wenig, dass ein Mangel auch bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen gefunden wird. So tritt beispielsweise Multiple Sklerose umso seltener auf, je näher man dem Äquator kommt, und auch Patienten mit anderen Autoimmunerkrankungen haben oft niedrige Vitamin-D-Spiegel. Doch Gleichzeitigkeit bedeutet nicht Kausalität. „Das ist wie mit dem Storch und den Babys“, sagt Professor Dr. Helmut Schatz, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE), im Gespräch mit DocCheck. Wobei die meisten die Sache mit dem Storch eher akzeptieren, denn über die prophylaktische Gabe von Vitamin D wird nach wie vor heiß diskutiert. Dass Neugeborene zur Rachitisprophylaxe Vitamin D und viele ältere Menschen zur Osteoporoseprophylaxe und -therapie Vitamin D plus Calcium (letzteres möglichst aus der Nahrung) benötigen, bezweifelt kaum jemand. An der Frage, ob gesunde Erwachsene es aber zur Prophylaxe einnehmen sollten, scheiden sich die Geister. Das Spektrum reicht von der Ansicht, bei Deutschland handele es sich um ein Vitamin-D-Mangelgebiet, bis hin zu der Auffassung, alles sei „im grünen Bereich“.
Derzeit gibt es keinen Beleg dafür, dass ein gesunder Erwachsener sein Risiko für Autoimmunerkrankungen, Infektionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs durch eine regelmäßige Einnahme von Vitamin-D-Tabletten vermindern kann. Zu diesem Ergebnis kommen auch zwei aktuelle Untersuchungen, die Anfang April im British Medical Journal erschienen sind. Die Autoren eines dort publizierten Reviews stellen fest, dass es trotz hunderter systematischer Untersuchungen und Metaanalysen keine Evidenz für den Nutzen einer präventiven Vitamin-D-Gabe gebe – nicht einmal für die Senkung des Frakturrisikos für die gemeinsame Gabe mit Calcium –, Assoziationen mit einer Auswahl von Outcomes seien jedoch möglich. Auch eine weitere ebenfalls Anfang April dort publizierte Studie kann eine breite Supplementation von Vitamin D nicht empfehlen. Zwar registrierten die Wissenschaftler bei älteren Teilnehmern mit höheren Vitamin-D-Spiegeln eine niedrigere Gesamtmortalität. Es seien jedoch weitere Studien, etwa zur Dosis und zur Dauer der Gabe, erforderlich, schreiben die Autoren weiter.
Die Diskussion erschwert, dass sich kaum bestimmen lässt, welche Vitamin-D-Spiegel als normal zu gelten haben und welche Konsequenzen sich jeweils ergeben. „‚Normwerte‘ gibt es wie bei allen Blutwerten auch beim Vitamin D nicht“, sagt Schatz. „Nur ‚Referenzwerte‘.“ Als optimal gilt hierzulande ein Calcidiol-Spiegel oberhalb von 30 Nanogramm pro Milliliter (ng/ml), aber auch 20 bis 29 ng/ml reichen noch aus. Als insuffizient bezeichnet man 10 bis 19 ng/ml. Von einer Defizienz, spricht man erst bei Werten unter 10 ng/ml. Internationale Einigkeit besteht allerdings auch hier nicht. Manche US-amerikanischen Endokrinologen betrachten bereits Werte unter 20 ng/ml als schweren Mangel. Dass hinter der Diskussion auch ein großer Markt steckt, leuchtet manchem nicht auf Anhieb ein, denn Vitamin-D-Tabletten kosten keine 3 Euro im Monat. Angeboten werden aber auch – unter anderem im Internet bestellbar für den Selbsttest zu Hause – wenig preiswerte Testkits zur Bestimmung des Vitamin-D-Status. Auch deren Nutzen darf mangels ableitbarer Handlungsempfehlungen bezweifelt werden.
So sieht Schatz keinen Grund, gesunden Erwachsenen ohne weitere Risikofaktoren auch bei Werten unter 20 ng/ml Vitamin-D-Präparate zu empfehlen. Regelmäßig möglichst 20 bis 30 Minuten Sonne auf Gesicht, Hände und Arme reichten aus, um ausreichend Vitamin D zu bilden. Auf Sonnenschutz sollte man in dieser Zeit allerdings verzichten, denn dieser hält auch den für die Vitamin-D-Produktion benötigten Teil des UV-Spektrums ab. Wer seine Haut weitestgehend mit Kleidung bedeckt – aus religiösen Gründen oder weil man Sonne und Sonnencremes nicht gut verträgt –, für den könne sich eine Vitamin-D-Supplementation aber durchaus eignen, sagt Schatz. Das gilt auch für ältere Menschen ab etwa 65 Jahren, besonders wenn sie aus gesundheitlichen Gründen die Wohnung kaum oder nicht mehr verlassen können oder in Pflegeeinrichtungen leben. Die Diskussion bleibt spannend. Bereits ältere Studien ließen erwarten, dass es möglicherweise nicht eine Antwort für alle – beispielsweise Altersgruppen oder Ethnien – geben könnte. So zeigte eine bereits im Jahr 2010 erschienene schwedische Untersuchung an älteren Männern, dass nicht nur niedrige, sondern auch sehr hohe Vitamin-D-Spiegel mit einer erhöhten Krebsmortalität einhergehen können. Dass hingegen niedrige Spiegel allein möglicherweise noch keinen Risikofaktor darstellen, zeigte eine Studie, in der auch die Blutspiegel afroamerikanischer Teilnehmer bestimmt wurden. Obwohl diese niedriger lagen als bei den hellhäutigen Vergleichpersonen, hatten die dunkelhäutigen Teilnehmer eine höhere Knochendichte.
Seit gut vier Jahren läuft in den USA die VITAL-Studie (VITamin D and Omega TriAL) mit über 20.000 Teilnehmern. Frauen über 55 Jahre und Männer über 50 Jahre, bei denen zuvor weder Krebs, Herzerkrankungen oder Schlaganfälle diagnostiziert worden sein durften, nehmen daran teil. Geprüft wird, ob und wenn ja welche Wirkung eine regelmäßige Einnahme von Vitamin D hat. Je eine von vier Gruppen erhält entweder täglich 2000 Internationale Einheiten (I.E.) Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren oder beides. Eine vierte Gruppe erhält ausschließlich Placebos. In der britischen VIDAL-Studie mit ebenfalls 20.000 Teilnehmern erhalten die Probanden der Verumgruppe monatlich 100.000 I.E. Vitamin D. Primäre Endpunkte sind Krebs, Herzerkrankungen und Schlaganfall, sekundäre Endpunkte unter anderem Diabetes mellitus, Autoimmunerkrankungen und Infektionen. Erste Ergebnisse werden 2016 erwartet. Man darf gespannt sein. Nicht zuletzt haben schon früher Studien zu anderen Vitaminen unerwartete Ergebnisse gezeigt. Zur Erinnerung: Vitamin E kann in hohen Dosen die Schilddrüsenwerte beeinflussen. Und eine Studie zu Vitamin A/Beta-Carotin musste vorzeitig abgebrochen werden, da Raucher aus der Verumgruppe häufiger Krebs entwickelt hatten als aus der Placebogruppe, und so die Sterblichkeit in der Verumgruppe erhöht war.
Ein weiteres Ergebnis erscheint möglich: dass niedrige Vitamin-D-Spiegel weniger einen Risikofaktor darstellen als einen Marker dafür, dass mancher schlicht zu selten vor die Tür kommt. Die Empfehlung, die sich daraus ableiten lässt, klingt zwar wenig aufregend, könnte sich aber wieder einmal als effektive, unbedenkliche und preiswerte Alternative zu Tests und Tabletten erweisen: regelmäßige Bewegung an der frischen Luft.