Auch in der 22. Woche geborene Kinder können überleben. Doch auch wenn es gelingt, tragen sie oft schwere Schäden davon. Eine neue Studie hat 23.000 Fälle von extrem Frühgeborenen ausgewertet.
Die Geburt eines Kindes ist ein Wunder. Nach Monaten im Bauch der Mutter kommt das Baby als nahezu fertiger Mensch auf die Welt, die es mit einem kräftigen Schrei begrüßt – hallo, hier bin ich! Doch auch Wunder haben Grenzen. Unter 22 Wochen Gestationszeit und unter 400 g Gewicht ist der winzige Mensch ganz und gar nicht fertig. Die Lunge kann den Gasaustausch nicht bewältigen, und auch der Großhirnrinde, dem wohl menschlichsten Organ, fehlt die nötige Reife.
Eine neue Studie von Erika M. Edwards und Kollegen, die sie in Pediatrics veröffentlicht haben, hat nun die Fälle von 23.000 extremen Frühgeburten zwischen der 22. und 25. Gestationswoche ausgewertet. Die Daten stammen von über 600 Kliniken in den USA mit gut ausgerüsteten Frühgeborenen-Intensivstationen. Man kann also davon ausgehen, dass die Frühchen bestmöglich versorgt wurden.
Die Autoren wollen mit ihrer Studie Ärzten und Eltern bei deren Entscheidung helfen, welchen Weg sie einschlagen wollen: den kurativen oder den palliativen. Ein Recht auf Behandlung hat grundsätzlich jedes Neugeborene, die Frage ist nur, welchen Weg man wählt. Das ist eine für Ärzte und Familie „schwierige, oft qualvolle Entscheidung“, so die Studienautoren, die auch Auswirkungen auf „das Versorgungsmanagement und die Gesundheitskosten“ hat.
Dank der Studie können nun die Wahrscheinlichkeiten, wie sich ein Extrem-Frühchen entwickeln wird, noch etwas besser eingeschätzt werden: Ob es trotz Versorgung noch in der Klinik stirbt, ob es überlebt, aber zeitlebens geistig und körperlich behindert und auf intensive Pflege angewiesen sein wird, oder ob es sich zu einem gesunden Kind entwickelt, dem man seinen schweren Start nicht anmerkt. Die existenziellen Fragen für die Eltern bleiben aber dieselben: Wollen wir unserem Kind und uns die Bürde eines womöglich schweren, lebenslangen Leids auferlegen? Oder können wir es verantworten, unser Kind sterben zu lassen, obwohl es sich vielleicht gut entwickelt hätte?
Das „Leid“ des Kindes ist ein zentrales Kriterium bei der Abwägung, ob die Ärzte um das Leben des Kindes kämpfen sollen. Aber was heißt „leiden“? Kann das Kind nicht trotz schwerer Behinderung ein gutes Leben führen? Natürlich kann es das, sagen Behindertenverbände. So sehen sie im Kassen-finanzierten Trisomie-Bluttest primär die Gefahr, dass Menschen mit Behinderungen aussortiert werden, dem Recht aller Menschen auf Inklusion und Selbstbestimmung zum Trotz. Geht es also mehr um das „Leid“ der Eltern, die sich womöglich bei der Aussicht auf ein zeitlebens pflegebedürftiges Kind überfordert fühlen?
„Diese Aspekte müssen bei der Entscheidungsfindung bestmöglich abgewogen und ausgehalten werden“, heißt es in der Leitlinie „Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit“ von 2020. Und die Eltern müssen viel „aushalten“. Auch wenn sie sich für eine palliative Behandlung ihres Kindes entscheiden, machen sie eine dramatische Phase durch, die auf unbestimmte Zeit nachhallt. Die Leitlinie betont deshalb, wie wichtig ein gute Betreuung auch dieser Eltern ist: „Sie sind darauf vorzubereiten, dass ihr Kind lebend zur Welt kommen kann und für eine gewisse Zeit Lebenszeichen haben wird.“ Die Verarbeitung dieser Zeit habe „in vielen Fällen für Eltern lebenslang prägende Bedeutung“.
Die untere Grenze des Entscheidungsfensters ist der Gestations-Zeitpunkt, bis zu dem ein Kampf um das Leben des Kindes wenig erfolgversprechend ist und der deshalb auch nicht geführt werden soll. Der medizinische Fortschritt hat die untere Grenzen weit abgesenkt, aber: „Dieser Erfolg wird mit einer hohen Rate an Morbidität bezahlt, die sich an der biologischen Grenze der Lebensfähigkeit sozusagen exponentiell zuspitzt“, sagt Dominique Singer, Leiter der Sektion Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
An der oberen Grenze sind die Aussichten so gut, dass die Pflicht der Ärzte zum kurativen Handeln greift. Zwischen oberer und unterer Grenze liegt der Graubereich, in dem vor allem die Eltern entscheiden müssen – mit ihrer Wertexpertise, unterstützt von der fachlichen Expertise der Ärzte. Hierzu formuliert die Leitlinie den klaren Grundsatz: „Allein die technische Möglichkeit einer medizinischen Maßnahme begründet keine medizinische Indikation.“
Für Deutschland zieht die Leitlinie die untere Grenze für Kinder über 400 g Geburtsgewicht am Beginn der 22. Woche, und für Kinder unter 400 g am Beginn der 23. Woche, weil „medizinische Maßnahmen in der Regel als aussichtslos einzustufen sind.“ Die obere Grenze liegt entsprechend am Beginn der 24. beziehungsweise 25. Woche. Dann seien die Überlebenschancen der Frühgeborenen so hoch, „dass im Regelfall eine lebenserhaltende Therapie anzustreben ist“, so die Leitlinie.
Die neue Studie von Edwards et al. hilft, die Chancen und Risiken für das Frühgeborene im Graubereich besser einschätzen zu können. Hier die wichtigsten Ergebnisse.
Von den insgesamt rund 23.000 extrem Frühgeborenen kamen 2.800 in der 22. Gestationswoche, 5.300 in der 23., 7.000 in der 24. und 7.900 in der 25. Zur Welt. Im Durchschnitt wogen die Kinder 490 g in der 22. Woche bis 770 g in der 25. Woche.
Die Mehrzahl der Neugeborenen wurde mit diversen Atemunterstützungen, Herzdruckmassagen und Adrenalingaben behandelt: 68 % in der 22., 95 % in der 23., 99 % in der 24. und fast alle in der 25. Woche Geborenen. In den nur drei Jahren der Datenerhebung stieg der Anteil der medizinischen Unterstützung der in der 22. Woche Geborenen von 62 % auf 74 %.
Die Überlebenschancen stiegen dramatisch an: Es überlebten 25 % aller in der 22., 53 % in der 23., 72% in der 24., und 82 % in der 25. Woche Geborenen. Von denen, die nicht überlebten, starben 39 % im Geburtsraum, 8 % innerhalb von 12 Stunden nach Ankunft in der Frühgeborenen-Intensivstation, und 28 % nach 12 Stunden.
Auch bezüglich der Komplikationen machte der Gestationszeitpunkt einen großen Unterschied: Ohne gravierende Komplikationen überlebten von den medizinisch versorgten Kindern 6 % in der 22., 14 % in der 23., 26 % in der 24., und 41 % in der 25. Woche Geborenen. Von allen in der 22. Woche Geborenen überlebten also 4 % ohne gravierende Komplikationen.
Eine ganz entscheidende Frage stellte die Studie nicht: Wie geht es den extrem Frühgeborenen auf lange Sicht? An Langzeitfolgen sind vor allem neurologische Schäden zu nennen, wie Zerebralparesen, kognitive Beeinträchtigungen und auffälliges Verhalten. Je massiver die Komplikationen des Neugeborenen sind, desto gravierendere sind auch die Schäden.
Hinzu kommt, dass sich die Gesundheit verschlechtern kann. So zeigte in einer schwedischen Studie mit knapp 300 Frühgeborenen die Hälfte aller Kinder, die im Alter von zweieinhalb Jahren noch weitgehend unauffällig waren, mit sechs Jahren eine mäßige bis schwere Beeinträchtigung. Andere Studien ergaben, dass selbst scheinbar gesunde Frühgeborene im Alter von 30 bis 40 Jahren erhebliche Probleme haben können.
Doch auch eine positive Entwicklung ist möglich: In derselben schwedischen Studie war ein gutes Drittel der Frühgeborenen, die mit zweieinhalb Jahren noch mäßig bis schwer beeinträchtigt waren, mit sechs Jahren weitgehend unauffällig. Diese Langezeitbeobachtungen bedeuten, dass die soliden Ergebnisse der aktuellen Untersuchung von Edwards für die längerfristige Perspektive doch wieder aufgeweicht werden.
In Österreich jedenfalls ist man, was den kurativen vs. palliativen Weg angeht, wieder etwas zurückgerudert. Vor sechs Jahren wurde die Untergrenze von der 22. Gestationswoche auf die 23. angehoben – es starben einfach zu viele Frühgeborene.
Da die Versorgung der Frühchen außerhalb des Mutterleibs offenbar seine Grenze erreicht hat, besteht die einzige Möglichkeit, auch extrem Frühgeborene sicher und gesund zur Reife zu bringen oder gar die Grenze doch noch weiter abzusenken, darin, mit einer künstlichen Gebärmutter samt Plazenta die Bedingungen im Mutterleib zu imitieren. Zeit genug hatte die Idee inzwischen – das erste Patent für einen künstliche Uterus wurde im Jahr 1954 eingereicht.
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