Zahlen legen nahe: Die Pandemie und der Lockdown haben psychische Erkrankungen bei jungen Menschen begünstigt, darunter auch ADHS. Der Blick auf das „Big Picture“ zeigt allerdings ein wesentlich komplexeres Bild.
Leiden Kinder und Jugendliche seit 2020 eher an Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS)? Diese Frage geistert immer mal wieder durch die Medien. Plausibel wäre es – neurologische und psychische Erkrankungen werden in der Regel deutlich von der Umwelt und der familiären Situation beeinflusst. Und tatsächlich deuten Studien darauf hin, dass in den letzten Jahren mehr junge Menschen unter ADHS-Symptomen litten.
Aufmerksamkeit erregte in Deutschland im August 2024 die „Pflegebegutachtung“ des Medizinischen Dienstes Nordrhein, die einen extremen Anstieg von ADHS-Fällen bei Grundschulkindern in Nordrhein-Westfahlen attestiert. Bereits im Kindergartenalter wurde die Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung deutlich häufiger als Grund für eine Pflegebedürftigkeit angegeben. Ähnliche Werte gelten laut dem Bericht auch für Autismus und andere Entwicklungsstörungen.
In diesem Bericht ging es freilich nicht um Diagnosen, sondern um den Pflegebedarf – sehr unterschiedliche Kennzahlen. „In der Pandemie sind einige Mechanismen weggefallen, die vorher die Symptome ausgleichen konnten“, sagt Prof. Jörg Dötsch, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln. „So haben Familien verstärkt Hilfeleistungen in Anspruch genommen.“ Insofern habe in dieser Zeit nicht unbedingt die Krankheit selbst zugenommen, sondern die Aufmerksamkeit, die das Thema in der Gesellschaft bekommt. Für einen direkten Vergleich der ADHS-Diagnosen vor und nach der Pandemie gibt es in Deutschland allerdings keine zuverlässigen Erhebungen.
Trotzdem ist ein Aufwärtstrend nicht unwahrscheinlich: In Finnland etwa stiegen die neuen ADHS-Diagnosen seit 2020 von 238 auf 477 Fälle pro 100.000 Einwohner im Jahr 2022. Ähnliche Erkenntnisse kommen aus Dänemark, wo Kinder vor und nach dem Lockdown untersucht wurden. Hier wurden aber nur sehr kleine Gruppen analysiert, was die Aussagekraft deutlich vermindert. 2023 beschrieb zudem eine Meta-Analyse einen weltweiten Anstieg der ADHS-Diagnosen während der Pandemie.
Über mögliche Gründe lässt sich spekulieren. So erhöhen Stress und psychosoziale Belastungen von Eltern die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Erkrankung bei den Kindern. Zwar bedeutete die Pandemie für manche Haushalte tatsächlich eher weniger Stress – für andere aber umso mehr, inklusive Geldsorgen, Einsamkeitsgefühlen und einem ständigen „aufeinander hocken“. Das belastet sowohl die Eltern als auch die Kinder selbst. Dazu kam vermutlich der große Anstieg der Bildschirmzeit, durch digitale Schulstunden und online-Gespräche mit Freunden. Es ist durchaus vorstellbar, dass solche Situationen ADHS-Symptome begünstigen oder verstärken könnten.
Anders sieht es bei Autismus aus. Daten hierzu liefert beispielsweise die hkk-Krankenversicherung. Schaut man dort auf die Jahre 2019 bis 2022, verändert sich die Anzahl neuer Autismus-Diagnosen bei jungen Menschen zwischen 0 und 24 Jahren nicht. Zudem gab es die Befürchtung, dass das Virus selbst oder die Umstände schon bei ungeborenen Kindern Autismus hervorrufen könnten. Diese Sorge scheint unbegründet: Forscher aus New York stellten fest, dass bei Kleinkindern, die während der Pandemie geboren wurden, nicht häufiger Autismus diagnostiziert wurde als bei früheren Geburtenjahrgängen.Tatsächlich sorgte die Pandemie bei vierjährigen Kindern zunächst für weniger Diagnosen, was aber vermutlich nur an der schwierigeren Gesundheitsversorgung während des Lockdowns lag.
Autismus mag von der Pandemie nicht maßgeblich beeinflusst worden sein. Jedoch zeigte etwa eine Untersuchung in New Jersey, dass 2015 fünfmal so viele achtjährige Kinder eine Autismus-Diagnose ohne intellektuelle Einschränkungen erhielten wie im Jahr 2000. Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) berichteten über die Zeitspanne von 2006 bis 2023 immer wieder über eine landesweite Zunahme.
Und auch bei ADHS zeigte sich dieses Phänomen: Die Bezeichnung, wie wir sie heute kennen, gibt es seit 1987 im Diagnosehandbuch DSM-III-R, und wurde seitdem in den nächsten Versionen des Handbuchs erweitert und teils anders definiert. Seit der ersten nationalen Erhebung in den USA im Jahr 1997 stieg auch die Anzahl der diagnostizierten ADHS-Fälle immer weiter an, berichten die CDC.
Die Erklärung dafür kann für Autismus und ADHS recht ähnlich aussehen: Einerseits sorgt die sich verändernde Definition möglicherweise dafür, dass mehr Fälle als solche eingestuft werden. Zudem gibt es unter Fachleuten und Laien ein besseres Wissen über diese Diagnosen: Ärzte könnten die Symptome zielsicherer einordnen und Eltern eher Rat suchen – auch wegen des sinkenden Stigmas. Auffällig ist für beide Diagnosen zudem, dass zunehmend Mädchen und jüngere Kinder als Fälle aufkommen, deren Symptome sich von Jungen und älteren Kindern unterscheiden können und dadurch früher eher übersehen wurden.
Teils wird in diesem Zusammenhang diskutiert, ob es durch die größere Aufmerksamkeit auch leichter zu Überdiagnosen kommt und die Kinder zu viel und zu oft therapiert werden. Jörg Dötsch sieht darin eher einen positiven Trend: „Die Familien fühlen sich nicht mehr so stigmatisiert durch die Diagnose.“ Dadurch könnten die Kinder und Jugendlichen individueller und besser behandelt werden. Wichtig dabei: „Eine Therapie muss nicht unbedingt medikamentös sein, es gibt viele andere Wege, um zu helfen.“
Was bedeutet das nun für die Pandemie? Möglicherweise hat die Zeit im Lockdown einen größeren Fokus auf ADHS-Symptome bei jungen Menschen gelegt. Vermutlich haben auch verschiedene Stressoren in dieser Zeit die Problematik verstärkt. Da aber bereits der generelle Aufwärtstrend für ADHS und Autismus diskutiert wird, lassen sich aus den Zahlenvergleichen von vor und nach der Pandemie wenig hilfreiche Schlüsse ziehen. „Deutlicher ist eine Zunahme etwa bei Ängsten und Essstörungen zu erkennen“, gibt Jörg Dötsch zu bedenken. Dort müsse unbedingt gegengesteuert werden. „Wir müssen die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen als Ganzes sehen und aufpassen, wo wir besonders hinschauen müssen.“
Quellen:
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