Viele Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung im Grundschulalter fielen bereits im Vorschulalter durch eine Sprachbeeinträchtigung auf. Forscher untersuchten, ob ein 18-wöchiges, tägliches spezielles Phonem-Training die Lesefähigkeit von Dyslexie-gefährdeten Grundschülern verbessert.
Phoneme sind die kleinsten Einheiten der Worte, aus denen die Bedeutung des Wortes hervorgeht. Zum Beispiel ist der Laut |t| im Wort „tot“ ein Phonem, denn stünde am Anfang ein |r|, hieße es „rot“ und hätte somit eine vollkommen neue Bedeutung. Viele Kinder mit einer Sprach- oder Lese-Rechtschreibstörung haben nur ein geringes Bewusstsein für Phoneme. Auf dem Erkennen von Phonemen liegt ein Schwerpunkt vieler Sprach- und Lesetrainings. Einige Studien haben jedoch gezeigt, dass die Lesefähigkeit der von Dyslexie betroffenen Kinder durch solche Trainings auf Dauer nur wenig beeinflusst werden kann – sie hinken in der Grundschule den gleichaltrigen Kindern oftmals hinterher. Eine Studie von Elbro und Petersen (2004) hingegen kam zu dem Ergebnis, dass das tägliche Training mit Buchstabenlauten und Phonemen über 17 Wochen im Kindergarten einen nachhaltigen Effekt bis zur 7. Klasse hat: Ehemals von Dyslexie betroffene Kinder konnten genauso gut lesen wie nicht-betroffene Schüler.
Fiona J. Duff und Kollegen der University of Oxford, Großbritannien, untersuchten nun in einer randomisierten kontrollierten Studie die Effekte eines Sprach- und Lesetrainings bei Grundschulkindern. Die Studie ist Teil einer größeren Längsschnittstudie namens „Wellcome Language and Reading Project“. Teilnehmer der Studie waren 6-jährige Kinder, bei denen aufgrund einer familiären Vorbelastung und/oder Sprachschwierigkeiten im Vorschulalter ein Risiko für eine Dyslexie bestand. Außerdem nahmen zum Vergleich nicht vorbelastete Kinder des gleichen Alters teil. Die Studienteilnehmer teilten sich in vier verschiedene Subgruppen auf: Es gab zwei vorbelastete Kerngruppen, von denen eine Gruppe eine 18-wöchige Behandlung (zweimal 9 Wochen) und eine Gruppe eine 9-wöchige Behandlung erhielt. Ebenso nahmen die nicht-belasteten Kinder entweder an dem 18-wöchigen oder dem 9-wöchigen Training teil. Die Intervention bestand aus täglichen Einheiten: Dreimal pro Woche erhielten die Kinder eine Einzelbehandlung à 20 Minuten und zweimal pro Woche eine 30-minütige Behandlung in kleinen Gruppen bestehend aus zwei bis vier Kindern. Die Kinder der Kontrollgruppe warteten zunächst 9 Wochen lang ab und erhielten dann 9 Wochen lang dieselbe Intervention. Die Forscher wollten mit diesem Modell unter anderem herausfinden, ob die Dauer der Therapie einen Einfluss auf den Erfolg hat. Zum Lesetraining gehörten Übungen zur phonologischen Bewusstheit und zum Lesen selbst. Im Sprachteil der Intervention übten die Kinder das Erzählen und erhielten ein Vokabeltraining. Die Behandlung wurde von geschulten Assistenten durchgeführt und die Therapietreue wurde streng überwacht. Die Autoren konnten schließlich die Daten von 56 Kindern im Alter von 6 Jahren mit einem Dyslexie-Risiko und von 89 Grundschulkindern ohne Risiko auswerten. 29 Dyslexie-gefährdete Kinder waren Teilnehmer der Experimentalgruppe und 27 gefährdete Kinder gehörten der Kontrollgruppe an. Außerdem gehörten 48 Kinder ohne Risiko zur Experimentalgruppe und 41 Kinder ohne Risiko zur Kontrollgruppe.
Die Autoren stellten nach der Intervention kleine bis mäßige Effekte hinsichtlich der Buchstabenkenntnisse, der Bewusstheit für Phoneme und der Sicherheit im Umgang mit gelernten Wörtern fest. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich bei den risikobelasteten Kindern um Kinder mit einem familiären Risiko handelte oder um Kinder, bei denen ohne familiäre Vorbelastung eine Sprachbehinderung festgestellt wurde. Die positiven Ergebnisse waren jedoch sehr brüchig und kurzlebig. Es zeigte sich kein bedeutsamer Effekt auf das Lesen einzelner Wörter. Die Autoren gingen zunächst davon aus, dass die Intervention zu kurz war. Zum Beispiel zeigte eine Studie von Fricke et al. (2013), dass ein 30-wöchiges Training sowohl in Bezug auf die Sprach- als auch auf die Lesefähigkeit effektiv war. Allerdings sei die Kürze der Intervention nicht das einzige Problem, vermuten die Autoren. Der Leseteil basierte auf einem effektiven Trainingsprogramm von Hatcher et al. (2006). Hier war in der Experimentalgruppe eine Zunahme von 4,59 Standardpunkten beim Parameter „Wortlesen“ nach nur 10-wöchiger Intervention zu verzeichnen. Die Kontrollgruppe verbesserte sich um nur 0,86 Punkte. Somit lag die Effektstärke bei d = 0,69, was einem mittleren bis starken Effekt entspricht. In der aktuellen Studie von Fiona Duff et al. verbesserte sich die Experimentalgruppe in den ersten 9 Wochen zwar auch um 4,13 Standardpunkte im Einzelwort-Lesetest, doch auch in der Wartegruppe war eine Zunahme von 3,49 Standardpunkten zu verzeichnen. Daraus ergibt sich eine äußerst kleine Effektstärke von d = 0,10. Fiona Duff und Kollegen kommen zu dem Schluss, dass die angebotene Intervention nicht effektiv war. Sie betonen, dass es wichtig ist, auch Null-Effekte gut durchdachter und sorgfältig durchgeführter Therapiestudien zu veröffentlichten, um verlässliche Standards zu entwickeln.