Die Einnahme von Acetylsalicylsäure kann Darmkrebs-Risiken verringern, allerdings zum Preis von mehr Magen-Darm-Blutungen. Doch eine Personengruppe scheint sehr stark vom Medikament zu profitieren.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Jede achte Krebserkrankung in Deutschland betrifft Kolon oder Rektum. An Darmkrebs sind in Deutschland in 2020 etwa 24.240 Frauen und 30.530 Männer neu erkrankt. Um das Risiko zu verringern, setzen Menschen weltweit auf Acetylsalicylsäure (ASS). Zahlreiche Studien der letzten Jahre und Jahrzehnte haben den Nutzen gezeigt.
Als Erklärung geben Forscher an, dass ASS die Produktion von Prostaglandinen als Entzündungsmediatoren verringert. Der Arzneistoff scheint auch Signalwege zu blockieren, die dazu führen, dass Zellen unkontrolliert wachsen. Effekte auf Immunantworten gegen Krebszellen und auf die Vaskularisation von Tumoren gelten ebenfalls als wahrscheinlich. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn der schützenden Wirkung stehen etliche Risiken gegenüber, allen voran die Gefahr, dass es zu Magen-Darm-Blutungen kommt – ein Dilemma.
Beispielsweise hat die US Preventive Services Task Force früher Erwachsenen zwischen 50 und 59 Jahren, sprich Altersgruppen mit dem höchsten Darmkrebsrisiko, geraten, täglich ASS in niedriger Dosis einzunehmen. Im Jahr 2016 zog sie diese Empfehlung zurück, unter anderem aufgrund von Bedenken, dass ASS zu deutlich mehr Magen-Darm-Blutungen führt. Genau hier liegt das Problem: Wer profitiert in der Abwägung von Nutzen und Risiken wirklich – und wer sollte besser darauf verzichten?
Eine in JAMA Oncology veröffentlichte Studie bringt Überraschendes zu Tage: Vor allem bei Menschen, die sehr ungesund leben, scheint der Wirkstoff den größten Nutzen zu zeigen. Die Autoren machen sich deshalb für einen deutlich differenzierteren präventiven Einsatz von ASS stark. Für ihre Studie analysierten sie Gesundheitsdaten von 107.655 Teilnehmern der Nurses’ Health Study und der Health Professionals Follow-Up Study. Beides sind groß angelegte Kohortenstudien.
Die Nurses’ Health Study (NHS) ist bekanntlich eine der größten und am längsten laufenden Untersuchungen zu Risikofaktoren für schwere chronische Krankheiten bei Frauen. Ab 1976 hatten Forscher an der Harvard School of Public Health 121.700 Krankenschwestern im Alter von 30 bis 55 Jahren aufgenommen. Sie wurden langfristig nachbeobachtet, um Effekte des Lebensstils auf die Gesundheit zu untersuchen. Folgestudien kamen hinzu.
Als Pendant, um die Gesundheit von Männern zu ergründen, haben Wissenschaftler die Health Professionals Follow-Up Study (HPFS) 1986 ins Leben gerufen. Sie umfasst mehr als 50.000 Teilnehmer, etwa Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Tierärzte, Optometristen, Osteopathen, Podologen. Die Teilnehmer waren zu Beginn der Studie zwischen 40 und 75 Jahre alt. In beiden Studien füllten die Teilnehmer regelmäßig Fragebögen mit Angaben zur Ernährung, zum Lebensstil und zur Gesundheit aus.
„Wir haben versucht, Personen zu identifizieren, die mit größerer Wahrscheinlichkeit von ASS profitieren, um personalisiertere Präventionsstrategien zu ermöglichen“, sagt der Koautor der Studie, Andrew Chan, vom Massachusetts General Hospital. Bei der Auswertung haben Chan und Kollegen Darmkrebsraten bei Probanden, die regelmäßig ASS einnahmen, mit Kontrollen ohne diese Medikation verglichen. Als regelmäßige Einnahme definierten sie zwei oder mehr Tabletten ASS in US-Standarddosis (325 mg) pro Woche oder tägliches niedrig dosierte ASS (81 mg). Die Teilnehmer wurden ab einem Durchschnittsalter von 49,4 Jahren nachbeobachtet.
Bei Personen, die regelmäßig ASS schluckten, lag die kumulative Zehn-Jahres-Inzidenz von Darmkrebs bei 1,98 %, verglichen mit 2,95 % bei Kontrollen. Der Benefit war bei dem ungesündesten Lebensstil am größten: Personen mit dem niedrigsten Score für einen gesunden Lebensstil hatten ein Risiko von 3,4 %, an Darmkrebs zu erkranken, wenn sie nicht regelmäßig ASS einnahmen. Unter der Prophylaxe verringerte sich der Wert auf 2,12 %. Im Vergleich dazu lag die Darmkrebsrate bei Probanden mit der gesündesten Lebensweise bei 1,5 % unter ASS versus 1,6 % ohne die Medikation.
Das bedeutet, dass in der Gruppe mit extrem ungesundem Lebensstil 78 Patienten ASS einnehmen müssen, um einen Fall von Darmkrebs über einen Zeitraum von zehn Jahren zu verhindern. In der Gruppe mit sehr gesunder Lebensweise müssten 909 die Medikation erhalten, um eine Neuerkrankung zu vermeiden. Der Lebensstil wurde anhand des Body-Mass-Index, der Häufigkeit des Zigaretten- und Alkoholkonsums, der körperlichen Aktivität und der Ernährung berechnet.
Mögliche Nebenwirkungen wie Blutungen wurden dabei nicht erfasst. Auch handelt es sich um eine Beobachtungsstudie, die Assoziationen, aber keine Kausalitäten and den Tag bringt. Trotz ausgefeilter Statistik könnten Risikofaktoren für Darmkrebs vielleicht unberücksichtigt geblieben sein, auch wenn sich die Interventions- und die Kontrollgruppe sehr ähnlich waren.
Dennoch bleibt als Fazit: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass ASS das deutlich erhöhte Risiko für Darmkrebs bei ungesundem Lebensstil stark senken kann“, sagt Daniel Sikavi, Hauptautor der Studie. Er arbeitet am Massachusetts General Hospital (MGH). Sikavi: „Im Gegensatz dazu haben Menschen mit gesünderem Lebensstil ein geringeres Grundrisiko für Darmkrebs. Daher war der Nutzen von ASS bei ihnen schwächer ausgeprägt.“
Für Ärzte leiten Sikavi und Chan aus ihren Daten ab, nach sonstigen Risikoabwägungen vorrangig Patienten mit ungesundem Lebensstil ASS zu empfehlen.
Quellen:
Sikavi et al. Aspirin Use and Incidence of Colorectal Cancer According to Lifestyle Risk. JAMA Oncol, 2024. doi: 10.1001/jamaoncol.2024.2503
Tobias Kurth. Aspirin and cancer prevention. BMJ, 2012. doi: 10.1136/bmj.e2480.
Elwood et al. Aspirin and cancer: biological mechanisms and clinical outcomes. Open Biol, 2022. doi: 10.1098/rsob.220124.
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