Meine Praxis platzt aus allen Nähten – und ich träume von der idealen hausärztlichen Versorgung. Wie ich sie mir vorstelle, lest ihr hier.
Heute ist mal wieder Traum-Tag. Ich hatte ja schon vor einiger Zeit mal über meine „Träume“ und Visionen in Bezug auf die hausärztliche Versorgung geschrieben, aber heute würde ich gern nochmal ein paar weitere Gedanken dazu spinnen.
Der Anlass? Naja – meine Praxis platzt immer weiter aus allen Nähten und daher überlegen mein Kollege und ich aktuell, ob wir irgendwie eine Zweit- oder Zweigpraxis realisieren können. Denn die Patienten werden nicht weniger, aber die Ärzte, die selbständig arbeiten wollen, sehr wohl. Da mein Kollege sich die Selbstständigkeit aber vorstellen kann, ist es dann nur logisch, „aus eins mach zwei“ zu planen. Und ja, da kann ich es dann nicht lassen, auch mal zu träumen – auch wenn mir klar ist, dass das wahrscheinlich finanziell und politisch nicht wirklich umsetzbar ist.
Mein Herz brennt für eine umfassende Prävention bzw. Behandlung mit Lebensstil-Modifikation statt ausschließlich mit Medikamenten. Nein, ich möchte die moderne Medizin absolut nicht missen und bin dankbar für die vielen medikamentösen Möglichkeiten, die wir heutzutage haben. Das ändert aber nichts daran, dass wir auch weiterhin mit Neben- und Wechselwirkungen zu kämpfen haben, wenn wir viele Medikamente geben und das somit meines Erachtens immer nur die zweitbeste Lösung sein kann. Die beste Lösung: Die Erkrankung tritt gar nicht erst auf (Prävention) oder lässt sich durch einen gesünderen Lebensstil behandeln. Weniger Medikamente, weniger Kosten. Klingt so, wie es ist: Oft zu schön, um wahr zu sein. Denn dafür bräuchte man mehr als die fünf bis zehn Minuten im Patientenzimmer.
Legen wir doch mal los mit der Träumerei: Am besten fände ich ein richtiges Versorgungszentrum: 1–2 Kinderärzte in Zusammenarbeit mit 3–4 Allgemeinmedizinern (jeweils Vollzeitäquivalent gerechnet, aber Teilzeit ist natürlich auch möglich) in einer (räumlich) großen Praxis. Dann könnten die Kinder direkt in die hausärztliche Praxis „reinwachsen“; die Primärversorgung wäre wirklich „von der Wiege bis zur Bahre“ problemlos möglich.
Die Kinder U-Untersuchungen laufen nur über die Kinderärzte, aber wenn die überlastet sind, können bei Akut-Fällen – so wie es jetzt wegen des Kinderarztmangels bei uns eh schon passiert – die Kinder auch zu den Allgemeinmedizinern gehen und lernen diese direkt mal kennen. Es gibt durch die gemeinsame Dokumentation und die kurzen Dienstwege wenig bis keine Transitionsprobleme, die oft aktuell die Versorgung gerade chronisch kranker Kinder und Jugendlicher erschweren.
Dazu kommt ein Stamm an nicht-ärztlichem medizinischem Personal: Mehrere MFA mit Zusatzqualifikation (z. B. VERAH/NÄPA) oder Physicians Assistants, die sich nicht nur um Labor, Langzeitblutdruck oder Ähnliches kümmern, sondern auch z. B. Impfungen selbständig durchführen können. Ehrlich gesagt hätte ich auch nichts dagegen, wenn diese MFA auch kleinere Erkältungen, die keine Antibiose oder Ähnliches erfordern, primär sehen würden – die brauchen meistens keinen Arzt, eher sondern nur die AU. Aber bei Rückfragen ist auch schnell einen Arzt verfügbar. Die organisatorische Standortleitung übernimmt eine MFA+ (Praxismanagerin), die sich um Personal- und Finanzfragen kümmert, sodass man als Arzt wirklich wieder ärztlich arbeiten kann.
Und wenn wir gerade beim Träumen sind: Die ideale Praxis hätte noch zusätzliche Kapazitäten, auf die man zeitnah zurückgreifen könnte: Einen Ernährungsberater, einen Physiotherapeuten und (nach den Erfahrungen der letzten Monate) auch jemanden, der psychotherapeutische Akut-Interventionen durchführt und einen Sozialarbeiter, um entsprechende Hilfen zu organisieren, wenn es nötig ist. Kurz gesagt: ein multiprofessionelles Team. Dafür müsste man aber entsprechende Räume haben oder ggf. ansonsten räumliche Nähe, heißt: Eine entsprechende Praxis nebenan, wo man aber auch zeitnah Termine bekommt. Dann könnte man nämlich wirklich versuchen, eine umfassende Versorgung auf die Beine zu stellen.
Ein Patient bekommt die Diagnose Diabetes mellitus Typ 2? Ich stelle als Arzt die Diagnose und kann ihm diese erläutern und Fragen dazu beantworten. Dann geht er – idealerweise direkt oder mit nur kurzer Wartezeit – zu der Ernährungstherapeutin und bekommt am besten direkt die erste kurze Schulung. Nach 2–3 Wochen kommt ein Folgetermin, bei dem die Problemfelder besprochen werden. Parallel (ja, wir reden von „idealerweise“) bespricht er mit dem Physiotherapeuten ein erst einmal niederschwelliges Programm für mehr Bewegung. Gleichzeitig besteht eine Kooperation mit den lokalen Sportvereinen, sodass man den Patient direkt auch in diese Institutionen reinholt – gern auch mit „Rezept für Bewegung“.
Ein Patient kommt mit Rückenschmerzen? Da ist oft die Kombination Physiotherapie und kurze psychologische Beratung echt sinnvoll, vor allem, wenn im ärztlichen Gespräch direkt auffällt, dass da auch eine psychische Komponente bei ist – was ja nicht selten ist.
Für kurze, spezialfachärztliche Fragen gäbe es telemedizinische Konsile, die wir binnen 24 Stunden für ausgewählte Fachrichtungen bekommen könnten, z. B. Dermatologie, Neurologie, Kardiologie. Dafür können wir die Patienten bei uns auch umfassender versorgen und müssen seltener wirklich zum spezialärztlichen Kollegen schicken, so dass die auch wieder mehr Zeit frei haben für die wichtigeren Dinge.
Ist das alles utopisch? Wahrscheinlich ja, leider. Es orientiert sich sicherlich auch an vorhandenen Konzepten wie dem HÄPPI-Konzept – wobei ich die dafür zwingend erforderliche Akademisierung der MFA ehrlich gesagt schade finde, denn ich habe mehrere MFA, die das Studium scheuen, aber sicherlich kompetent genug wären, ein entsprechendes Konzept umzusetzen – und dem Vorbild der Primärversorgungszentren anderer Länder folgen könnten. Aber naja, wenn es in anderen Ländern funktioniert, warum das nicht kopieren? Auch in Deutschland scheint es erste Ansätze zu geben. Ich wäre definitiv mit dabei.
Denn aktuell gerät unsere Versorgung auf dem Land zunehmend zum Albtraum, da muss man doch auch etwas entgegensetzen. Ich weiß: Wer Visionen hat, soll laut Helmut Schmidt zum Arzt gehen. Aber in diesem Fall möchte ich lieber als Arzt die Vision haben – und mit ihr in die Zukunft gehen.
Bildquelle: Curated Lifestyle, Unsplash