KOMMENTAR | Wir Deutschen sind eh zuverlässig durchgeimpft. Aber stimmt das auch oder überlassen wir bald lange unter Kontrolle geglaubten Krankheiten wieder die Spielfläche? Ich habe mir die Zahlen mal ganz genau angeschaut.
Ein Text von Dr. Ulrich Enzel
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine Zusammenfassung
Zwar stammen die neuesten, in den Epidemiologischen Bulletins des RKI 48/2022 und 49/2022 veröffentlichten Daten zu den Durchimpfungs-Raten in Deutschland aus der KV-Surveillance der Jahre 2020 bis 2022, aber in den letzten zwei Jahren hat sich leider nur wenig verändert. So dürfen diese Werte als Basis auch für aktuelle Gedanken zur Impf-Liebe der Deutschen herhalten.
Hier mag es beruhigen, dass immerhin – die Raten in den einzelnen Bundesländern differieren sehr ausgeprägt – 54,4 % (44,3–72,4 %) aller Erwachsenen innerhalb der letzten 10 Jahre ihren Tetanus-Impfschutz aufgefrischt haben, 53,4 % den gegen Diphtherie und 49,8 % ihren Pertussis-Schutz.
Aber muss es nicht große Sorgen bereiten, dass selbst gegen Influenza nur 43,3 % aller über 60-Jährigen, 35,4 % der über 18-Jährigen mit Grundkrankheiten, aber nur 17,5 % aller Schwangeren geimpft sind? Und gegen das Killer-Bakterium Pneumokokken haben gar nur 25,3 % aller über 60-Jährigen und 25,6 % der über 18-Jährigen mit impfrelevanten Grundkrankheiten einen Impfschutz. Die erforderlichen zwei Impfungen gegen Herpes zoster haben nur 7,7 % der über 60-Jährigen erhalten. Selbst in ausgewiesenen Risikogebieten verfügen lediglich 19 % der > 18-Jährigen über einen Schutz gegen FSME. Die Masern-Impf-Inzidenz bei nach 1970 geborenen dieser Altersgruppe dümpelt seit 2021 gar bei 0,5 % herum.
Kinder sind doch gewiss perfekt geschützt in Deutschland? Gewiss, im Alter von zwei Jahren sind 81,2 % gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis und Haemophilus-influenzae korrekt geimpft. 79,1 % gegen Hepatitis B und 89,3 % gegen Masern. Aber einen ausreichenden Schutz gegen Pneumokokken weisen nur 82,2 % aller 4-Jährigen auf. Gegen Meningitis C wurden 89,9 % und gegen Rotaviren wurden bis zum Alter von 32 Wochen lediglich 69,8 % geimpft. Bis zum Ende der Jugendzeit waren 2021 lediglich 54,1 % aller Mädchen und 8,1 % der Jungen ausreichend gegen HPV geimpft. Auch Kinder und Jugendliche sind also weit entfernt von einem ausreichenden Schutz gegen impfpräventable Krankheiten.
Die Impfquoten im Überblick:
Aber, sind diese niedrigen Impfraten – und damit die Tatsache, dass weite Teile der Bevölkerung ohne Schutz gegen diese Krankheitsgefahren leben – nur ein individuelles Problem? Eben nicht! Alleiniger Individualschutz gilt nur für Krankheiten wie Tetanus oder FSME. Bei allen übrigen impfpräventablen Krankheitsbildern ist der Mensch der wichtigste, oft der alleinige Vektor für die Krankheitsverbreitung. Und fast alle Impfungen verleihen nicht nur dem Geimpften einen Schutz, sondern reduzieren oder verhindern die Weitergabe der Erreger. Sie verschaffen eine Herden-Immunität, dienen dem Gemeinwohl. Und hierfür sind hohe Durchimpfungsraten die sicherste Option.
Je mehr Patienten ein einziger Kranker ansteckt – oftmals genügt hierfür tückischerweise sogar ein Symptom-freies Erreger-Trägertum – desto höhere Durchimpfungsraten sind erforderlich, um eine sichere Herden-Immunität aufzubauen. Masern und Pertussis sind ganz besonders ansteckend: ein bei Pertussis oft nur atypisch Kranker steckt durchschnittlich 12 bis 18 Personen an. Bei diesen beiden Krankheiten ist laut den Angaben der WHO eine 95%-ige Durchimpfung erforderlich. Bei Röteln und Diphtherie genügen Raten von 80–85%, bei Influenza (und wahrscheinlich sogar bei Covid-19) sind bereits etwas über 75 % Geimpfte ausreichend, um die Ausbreitung der Infektion zu unterbinden.
Wie effizient hohe Durchimpfungsraten sein können, beweist eindrucksvoll das Eradizieren der Pocken weltweit, der Poliomyelitis in weiten Teilen der Welt, aber auch der Tollwut bei unseren Wildtieren (außer den Fledermäusen). Bis 2030 könnte – so das von der WHO und der EU gemeinsam formulierte Ziel – eine 90%-ige HPV-Impfquote bei 15-jährigen Mädchen Zervixkarzinome vollständig eliminieren.
Ein Blick auf die Melderaten sollte als Impf-Katalysator wirken. Gegenüber 2023 haben sich bis zum Herbst dieses Jahres die Fälle invasiver Pneumokokken-Erkrankungen fast verdoppelt, die der Influenza fast vervierfacht. Fast achtmal häufiger wurden Pertussis-Fälle gemeldet, Masern mehr als zehnmal so oft – fast ausschließlich bei Nichtgeimpften, besonders häufig bereits im ersten Lebensjahr. Die Covid-Raten dagegen sind 2024 auf 12 % gesunken gegenüber dem Vorjahr.
Welche Konsequenzen sind aus diesen Entwicklungen zu ziehen? Die STIKO Empfehlungen geben klare Handlungsanweisungen. So soll vor allem um die besonders durch Komplikationen gefährdeten Säuglinge ein Kokon aufgebaut werden durch eine erneute Pertussis-Impfung bei allen nicht mehr ausreichend Geschützten und eine Impfung während der Schwangerschaft. Doch auch die Auffrischimpfungen im Alter von 5–6 Jahren und erneut zwischen 9–16 Jahren unterbleiben gar zu oft. Konsequent sollte die schon viele Jahre bestehende Empfehlung umgesetzt werden: „Eine Impfstoffdosis eines MMR-Impfstoffs für alle nach 1970 geborenen Personen >/= 18 Jahre mit unklarem Impfstatus, ohne Impfung oder mit nur einer Impfung in der Kindheit“.
Gegen Pneumokokken kann der seit dem vergangenen Jahr für alle ab dem 60. Lebensjahr oder aufgrund von Grundkrankheiten besonders Gefährdeten PCV-Impfstoff sicheren, wohl lange anhaltenden Schutz schenken. Und bei Influenza? Neben diesen Risikogruppen sollen auch alle „Personen mit erhöhter Gefährdung“, gerade auch medizinisches und pflegendes Personal zum eigenen wie zum Herdenschutz jeden Herbst erneut geimpft werden. Da aber bei Influenza – im Gegensatz zu Covid-19 – gerade Kinder besonders häufig erkranken und den Feuerbrand der Übertragung stellen, wäre auch bei uns, wie in vielen anderen Ländern effizient bewährt, eine auf diese Altersgruppe ausgedehnte Impfempfehlung hilfreich.
Mehr Impfliebe entflammen – eine wichtige ärztliche Aufgabe!
Bildquelle: Gleb, unsplash