Immer häufiger setzen Eltern auf „Bildschirmbetreuung“ statt persönliche Interaktion. Welche verheerenden Folgen das für die soziale Entwicklung haben kann, lest ihr hier.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Neue Medienformate machen auch vor Kindern nicht Halt. Digitale Spiele auf Tablets und Smartphones gibt es ohne Ende. Das Problem: Dabei beschränkt sich die Interaktion der Kinder auf ein Gerät und der Nachwuchs lernt nicht, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten – Defizite bei der sozialen, emotionalen, kognitiven und sprachlichen Entwicklung drohen. Deshalb rät die American Academy of Pediatrics von jeglicher Bildschirmnutzung vor dem 18. Monat ab.
Das Spielen auf einem Tablet verringert im Vergleich zum Spielen mit den Eltern den Sprachinput als Teil der frühen Sprachentwicklung. Darüber hinaus lernen Kleinkinder von Touchscreen-Content weniger als bei realen Interaktionen. Eine aktuelle Metaanalyse und eine Kohortenstudie liefern auch Hinweise, dass die frühe Bildschirmnutzung mit Entwicklungs- und Sprachverzögerungen in Verbindung steht. Aber der Mechanismus bleibt unklar.
Forscher äußern die Vermutung, dass die gemeinsame Aufmerksamkeit (englisch: joint attention) von zentraler Bedeutung sein könnte. Der Begriff beschreibt eine wesentliche Fähigkeit im Lernprozess von Kleinkindern. Zur gemeinsamen Aufmerksamkeit zählt, wenn zwei Personen – in der Regel das Kind und ein Erwachsener – zusammen spielen. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich beispielsweise auf ein bestimmtes Spielzeug. Dies bildet eine Grundlage für sprachliches Lernen, soziales Verhalten und kognitive Entwicklung.
Die Fähigkeit, gemeinsame Aufmerksamkeit herzustellen, entwickelt sich in den ersten Lebensjahren. Sie ermöglicht es Kleinkindern, durch soziale Interaktionen zu lernen. Wenn ein Erwachsener auf einen Gegenstand zeigt und diesen benennt, richtet das Kind seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf dieses Objekt.
Und bei Videospielen? Ziel der aktuellen Studie war, als Hypothese zu untersuchen, ob sich die Beschäftigung mit Tablets nachteilig auf die gemeinsame Aufmerksamkeit auswirkt. Dazu wurden 63 Kleinkinder im Alter zwischen 18 und 32 Monaten mit typischer neurologischer Entwicklung in die Studie aufgenommen. Alle Kinder hatten durchschnittlich 281 Minuten pro Woche Kontakt zu digitalen Medien (Extrema: 28 % maximal 70 Minuten, 16 % mindestens 420 Minuten).
Im nächsten Schritt haben die Wissenschaftler zwei Kohorten gebildet. In einer Kohorte erhielten die Kinder echtes Spielzeug, ein Nutztier. In der anderen Kohorte beschäftigten sich die kleinen Probanden mit einem Online-Spiel auf dem Tablet-Computer.
Während des Spiels gab es simple Tests zur gemeinsamen Aufmerksamkeit: Forscher riefen das jeweilige Kind beim Namen. Dann musste es einen Gegenstand ansehen, auf den gezeigt oder der benannt wurde. Am Ende der Spielzeit haben Wissenschaftler das Kind dreimal aufgefordert, das Spielzeug oder das Tablet zurückzugeben.
Zu den Ergebnissen: Wenn sich Kleinkinder mit einem digitalen Spiel auf einem Tablet beschäftigten, reagierten sie seltener auf Aufforderungen zur gemeinsamen Aufmerksamkeit. In der Video-Gruppe brauchten männliche Kleinkinder länger, um auf eine Verhaltensaufforderung zu reagieren, als in der Kontrollgruppe mit echtem Spielzeug. Die Reaktionen auf Ansprachen der Forscher fielen bei ihnen auch am schwächsten aus. Einen Großteil der Unterschiede führen die Wissenschaftler auf unterschiedliche Spiele zurück, mit dem sich Kleinkinder beschäftigt hatten.
Defizite der gemeinsamen Aufmerksamkeit in der Computerspiel-Gruppe wurden mit zunehmendem Alter größer. „Dies deutet darauf hin, dass kommerzielle Tablet-Spiele sich nachteilig auf frühe sozial-kommunikative Interaktionen auswirken, insbesondere, wenn sie das Spielen mit echtem Spielzeug, Eltern-Kind-Aktivitäten oder das Spielen mit Gleichaltrigen ersetzen oder verringern“, schreiben die Autoren.
„Wie die Forscher uns sagen, handelt es sich um eine Proof-of-Concept-Studie mit Daten, die am Ende der COVID-19-Pandemie erhoben wurden“, kommentiert Prof. Paul Howard-Jones. Er forscht an der School of Education der University of Bristol und war nicht an der Studie beteiligt. Methodisch kritisiert er fehlende Angaben zur Mediennutzung der Kleinkinder in ihrem Haushalt. „Aber trotzdem zeigt die Studie, wie Touchscreen-Technologie möglicherweise die gemeinsame Aufmerksamkeit von Erwachsenen und Kindern beeinträchtigen.“ Seine Interpretation: „Wenn wir nicht bemerken, worüber andere sprechen, können wir nichts von ihnen lernen.“
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Quellen:
Madigan et al. Associations Between Screen Use and Child Language Skills: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Pediatr, 2020. doi: 10.1001/jamapediatrics.2020.0327
Takahashi et al. Screen Time at Age 1 Year and Communication and Problem-Solving Developmental Delay at 2 and 4 Years. JAMA Pediatr, doi: 10.1001/jamapediatrics.2023.3057
Webb et al. Mobile Media Content Exposure and Toddlers’ Responses to Attention Prompts and Behavioral Requests. JAMA Netw Open, 2024. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.18492
Bildquelle: Kelly Sikkema, unsplash