Schon wieder ein volles Wartezimmer und ich habe nicht genug Zeit für all die Patienten. Also überweise ich sie weg, das Problem wandert zu den Kollegen. Wohl ist mir nicht dabei, denn die sind ja auch überlastet – aber ich habe keine Wahl.
Dieser Spruch – auch als „Floriansprinzip“ bekannt – kommt mir momentan erschreckend häufig in den Sinn, wenn ich darüber nachdenke, wie das Gesundheitssystem in Deutschland läuft.
Ein paar Beispiele: Wenn ich als Arzt tätig bin, muss ich mir überlegen, wie ich arbeiten will: Da alle KV-Patienten ja letztlich eine „Flatrate“ haben und für nur wenige Euro im Quartal so oft kommen können wie sie wollen, ist es sehr attraktiv, möglichst viele Patienten zu haben (sogenannte „Schein-Praxen“, die viele Krankenkassen-SCHEINE machen). Letztlich geht das aber nur, wenn ich meine Patienten möglichst wenig untersuche und vor allem nicht mit ihnen länger rede, sondern am besten eine schnelle Überweisung ausstelle, um sie dann zum nächsten Arzt zu schicken. Das entlastet meine Praxis, sorgt aber bekanntermaßen dafür, dass beim Facharzt die Termine knapp sind, weil der sich mit Bagatellen befassen muss, die eigentlich bei uns abgefangen werden sollten.
Aber auch die „Terminpraxis“ kann im hausärztlichen Bereich schnell vom Floriansprinzip infiziert werden: Denn wenn ich nicht genug Akuttermine habe, müssen meine Patienten ja woanders hin für ihre AU oder ihre Akutversorgung. Oft ist das leider das Krankenhaus und ich höre auch von der Notaufnahme im hiesigen Krankenhaus, dass dort werktags (also wenn eigentlich die Hausarztpraxen geöffnet sind), immer mehr Patienten kommen, die eigentlich klar wissen, dass sie nicht in die Notaufnahme gehören, aber die keinen Termin bei den Terminpraxen bekommen. Auch das ist letztlich ein Floriansprinzip – sollen sich doch die Patienten selbst kümmern (oder eben die Notaufnahme, die muss ja...).
Sehr beliebt ist auch das juristische Floriansprinzip – gern genommen bei der Meldung aus dem Heim: „Patient gestürzt, man sieht aber nichts“ oder „Patient isst weniger als sonst, aber keine relevante Gewichtsabnahme.“ Gemeldet ist der Vorfall, jetzt muss der Arzt entscheiden, was passiert. Ich kann auch aus Zeitgründen nicht jedes Mal hinfahren, aber damit liegt die juristische Verantwortung halt bei mir. Ich verstehe, dass die Pflege sich da absichern will, aber letztlich bringt das für die Versorgung des Patienten gar nichts und sorgt auf Dauer nur für Frust.
Der Bereich, den ich emotional aber als stärkste Belastung empfinde, ist die Vermeidung von Konflikten. Natürlich kostet es Kraft, sich mit Patienten auseinanderzusetzen, weil man ihnen eben nicht jeden Wunsch von den Augen ablesen kann. Ich habe Patienten, keine Kunden und ich bin nicht dafür verantwortlich, dass jeder Patient alles bekommt, was er für gut hält. Vor ein paar Tagen kam eine 80jährige Patientin, die meinte, dass sie doch ein neues Physiotherapierezept bräuchte – das täte ihr doch so gut und ihr alter Hausarzt hätte ihr das immer verschrieben. Sie bekam Nackenmassagen seit zwei Jahren. Wir haben dann darüber gesprochen, dass letztlich dafür keine Indikation mehr besteht – „das tut mir gut“ ist keine Kassenleistung und wenn es nach zwei Jahren nicht wirklich dauerhaft besser ist, ist eh die Frage, wie viel das wirklich bringt.
Diese Diskussionen über Physiotherapie, aber auch über Sozialleistungen vieler Art (oft erstmal die AU, aber auch Krankengeld, Erwerbsminderungsrente, GdB, …) kosten immer viel Zeit, oft bekomme ich sogar mehr Geld, wenn ich die Anträge einfach alle unbesehen ausfülle. Aber auch damit bediene ich letztlich das Floriansprinzip – soll jemand anders entscheiden und im Zweifelsfalle soll die Gemeinschaft halt bezahlen, Hauptsache ich muss mich diesem Konflikt nicht aussetzen. Das geht nicht. Ich kann nicht jeden Arbeitsplatzkonflikt mit einer AU „behandeln“, damit ich da keine Diskussionen habe und schnell weiter arbeiten und Geld machen kann. Denn letztlich gibt es auch für eine AU Indikationen. Das ist ein ziemliches Spannungsfeld, denn als Niedergelassene mit Angestellten bin ich ja letztlich auch ein Unternehmer und muss schauen, dass auch das Geld reinkommt.
Warum schieben wir inzwischen so viel ab? Ich glaube, dass die schiere Masse an Patienten (zumindest hier bei uns) dafür sorgt, dass einfach nicht genug Kraft da ist, alle zu versorgen und deswegen alle (kurzfristig) Kraft einsparen, indem sie möglichst stromlinienförmig durch den Alltag schwimmen. Auch wenn das langfristig Probleme macht (keine Facharzttermine, überbordende Gesundheitskosten, weil ein Patient durch 1.000 Hände gereicht wird, die alle was abrechnen, aber nicht helfen können, von den Lohnersatzleistungen etc. ganz zu schweigen).
Da müssen wir dringend eine bessere Lösung finden. Denn eigentlich verschleißen wir damit mehr Ressourcen als notwendig. Aber ich sehe auch das Problem, dass letztlich alle gleichzeitig damit anfangen müssten, denn sonst knubbelt sich die Arbeit bei denjenigen, die eben NICHT alles wegschieben und irgendwann fangen alle aus Selbstschutz wieder damit an.
Wie kommen wir an einen solchen Punkt? Ich denke dann immer wieder an den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck und seine Vision eines Leitbildes vom „Ehrbaren Kaufmann“:
„Eine Haltung, die […] auf Anstand und Respekt, auf Verantwortung und Rechtschaffenheit beruht. Der ,Ehrbare Kaufmann’ ist, so meine ich, eine unserer Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung, weil er neben den betrieblichen Interessen die gesellschaftlichen Bedürfnisse im Blick hat – und damit die Grundlage für gutes Wirtschaften.“
Da müssen wir wieder hin. Wir haben nicht nur eine medizinische und eine wirtschaftliche Verantwortung in der Praxis, sondern eben auch eine gesellschaftliche/gesellschaftsverträgliche Verantwortung. Wo jeder auch ans „große Ganze“ denkt und nicht nur an seine kleine Praxis und diesen einen individuellen Patienten. Nur so bekommen wir eine wirklich gute und gleichzeitig bezahlbare medizinische Versorgung.
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