Leonies Mutter erwartet uns schon und redet wie ein Wasserfall. Ihre Tochter sei nicht ansprechbar, wie könne das sein? Wir springen aus dem RTW und beim Betreten ihres Zimmers wird uns klar: Das ist kein gewöhnlicher Einsatz.
Als der Alarmempfänger ging und ich gegen Mittag als Notfallsanitäter mit meiner Kollegin Paula zur 17-jährigen Leonie gerufen wurde, wusste ich rein gar nichts von Leonies Schicksal. Paula und ich betrachteten diesen Einsatz als Routineaufgabe, wie sie schon hundertmal ablief. Die Einsatzmeldung lautete „unklar erkrankt“ – das konnte alles oder nichts bedeuten, wobei „nichts“ in den meisten Fällen zutraf.
Eine junge Frau erwartete uns vor dem Haus und stellte sich als Leonies Mutter vor. Sie redete wie ein Wasserfall, dass sie mit ihrem Mann gerade erst vom Wellness-Urlaub zurückgekommen sei und dass sie das alles nicht verstehen könne, denn Leonie sei immer gesund gewesen. Und dass Leonie nicht ansprechbar sei. Wir sprangen aus dem RTW, packten unseren Kram, liefen in das Haus und betraten Leonies Zimmer. Sofort war uns klar: Dies wird kein gewöhnlicher Einsatz.
3S: Das Mädchen lag in Rückenlage nur mit einem Slip bekleidet auf ihrem Bett. Die Szene war sicher. Keine scharfen Gegenstände, die uns gefährlich werden konnten. Deutliche Blässe, keine Zyanose.
WASB: Sie ließ sich auch auf stärksten Schmerzreiz nicht erwecken.
xABCDE: Keine relevante Blutung sichtbar. Die Atemwege schienen frei zu sein. Das angelegte Pulsoxy ergab 89 Prozent bei erniedrigter Atemfrequenz. Sie brauchte hier auf jeden Fall Unterstützung. Bauch weich, keine Abwehrspannung, Darmgeräusche abgeschwächt. Rekap-Zeit bei drei Sekunden. Der Blutdruck lag bei 70/50, Herzfrequenz 40 Schläge pro Minute. Blutzucker bei 59 mg/dl. Temperatur aurikular: 37,3 Grad Celsius. Akute vitale Bedrohung. Aber wieso?
„Notarzt kommt.“ Der Disponent klang, als wäre er im Stress. Wir begaben uns auf Ursachensuche, während Paula den überdimensionierten venösen Zugang in der Ellenbeuge versenkte. „Atropin?“, fragte ich Paula, die das Ampullarium aber längst in der Hand hatte. Ich nickte, sie nickte zurück. Kurze Zeit später gab Paula das Medikament in den Zugang. In diesem Moment merkte ich wieder einmal, wie unersetzlich ein fähiger Teampartner ist, wie Paula es in diesem Moment war. Es kam mir so ungerecht vor, dass viele den Kollegen immer nur salopp als „Kutscher“ bezeichnen – so, als wäre Fahren die einzige Aufgabe, die dieser hat. Aber das ist keineswegs so: Paula war in diesem Moment für mich eine unermesslich wichtige Hilfe, und ihre Fähigkeiten eine Erleichterung.
Ich sah durch das Fenster. Ein Taxi hielt vor dem Grundstück. Jemand musste die ältere Dame angerufen haben. Sie stolperte aus dem Taxi, drehte sich zum Fahrer und gab ihm einen Schein. Dann drehte sie sich erneut um und eilte ins Haus. Ich hörte, wie sie mit Leonies Mutter sprach und weinte. Die Begriffe „Warum“ und „Wieso“ fielen öfter. Aber das war zu diesem Zeitpunkt nicht unser Problem, denn wir standen vor einer Reihe massiver Schwierigkeiten, die wir in den Griff bekommen mussten. Vor allem wussten wir nicht, mit welchem Gegner wir es zu tun hatten.
Ten-for-ten: Mittlerweile fast nicht-messbarer Druck und eine Bradykardie, die sich nur minimal auf das Atropin hin gebessert hatte. Dazu eine schlechte Sättigung bei zu geringer Atemfrequenz. War das ein zerebrales Problem? Ich versuchte noch, den Druck mit einer halben Ampulle Akrinor® und sehr mäßigem Erfolg hochzubekommen. Aber was sollten wir mit der Frequenz machen? Adrenalin? Ich betrat Neuland, denn außerhalb einer Anaphylaxie oder einer Reanimation hatte ich Adrenalin noch nie angewendet.
Ein Versuch war es wert. Der venöse Zugang lag bereits. Akrinor® hatte nicht den gewünschten Effekt zur Blutdrucksteigerung gebracht. Atropin wirkte fast gar nicht. Wir versuchten nun Adrenalin über einen Perfusor. Das sollte die Herzfrequenz erhöhen und den Blutdruck anheben. Dazu gaben wir 1 ml Adrenalin zu 49 ml Ringer-Acetat in eine Perfusorspritze. Die fertige Lösung enthielt 20 Mikrogramm Adrenalin pro ml. Als Einstieg stellte ich den Perfusor auf 5 ml pro Stunde ein, um 100 Mikrogramm pro Stunde zu versuchen.
Das Adrenalin wirkte gut nach stufenweiser Korrektur auf 290 Mikrogramm pro Stunde. Leonies Blutdruck und die Herzfrequenz stiegen auf ein erträgliches Maß an. Die Frequenz pendelte sich zwischen 70 und 90 ein. Der Druck stieg auf 130 an. Die Sättigung hingegen kam nicht auf über 89 Prozent. Die Atemfrequenz war zu niedrig, ebenso der Blutzuckerspiegel. Also überbrückend assistierte Beatmung mit Sauerstoff. Irgendwann stieß auch Notarzt Boris zu uns, der zunächst mit der alten Dame sprach, die sich ihm als Leonies Oma zu erkennen gab. Sie schrie und weinte, weshalb sich das Kind dies angetan habe. „Was angetan? Wie kommen Sie darauf?“, wollte Boris wissen. Die Dame zog eine leere Schachtel aus der Tasche. Propranolol. Das waren keine guten Nachrichten.
Einen Tag zuvor saß Leonie in ihrem Zimmer. Nur die Stille umgab sie, und nur das Ticken der Uhr an der Wand unterbrach den Frieden. Ihre Eltern waren wieder einmal wellnessen in einem der so unfassbar teuren Fünf-Sterne-Hotels. Ja, ein Teil des Erbes, das ihre Eltern von ihrer Oma vorab erhalten hatten, musste unbedingt auf den Kopf gehauen werden. Nur schade, dass die Reisen immer unter der Woche und während der Schulzeit stattfanden. Aber gut, Leonie kannte es nicht anders – dass sie nicht gerade als Wunschkind zur Welt kam, hatte sie längst kapiert. Auch in der Schule fühlte Leonie sich wie ein Geist – unsichtbar, weggestoßen und ständig dem Spott ihrer Mitschüler ausgesetzt. Freunde? Fehlanzeige. Es gab da nur ihre alte schwarze Katze namens Luzie mit struppigem Fell und dem weißberandeten linken Auge, das eine Winzigkeit größer war als das rechte.
Leonie liebte sie bedingungslos, so als wären die Beiden Seelenverwandte. Luzie war genau wie Leonie siebzehn Jahre alt. Aber eine Woche zuvor schlief Luzie mit einem letzten Seufzer auf Leonies Schoß ein und wachte nie wieder auf. Für Leonie fühlte es sich vermutlich an, als hätte ihr Luzies Tod das Herz herausgerissen.
„Die Blister sind weg. Leonie war gestern bei mir. Sie war sehr traurig wegen ihrer Katze.“ Mein Blick fiel auf Luzie, die auf einem übergroßen Portrait an der Zimmerwand abgebildet war und in die Kamera posierte. Und die jetzt gestorben war. Ich schluckte, denn ich habe selbst eine schon etwas betagtere Katze namens Herr Schneider und kann mich durchaus in jemanden hineinversetzen, der seiner geliebten alten Katze beim Sterben zusehen muss.
Als Leonies Mutter realisierte, was geschehen war, brach sie zusammen. Ihre Beine gaben nach und sie sank zu Boden, den Kopf in den Händen vergraben. Zwischen erstickten Schluchzern hörte ich bittere Vorwürfe an sich selbst, für die es jetzt zu spät war. Paula und ich tauschten einen Blick aus. In ihren Augen erkannte ich die gleiche Mischung aus Mitgefühl und professioneller Distanz, die ich selbst fühlte. Wir mussten unsere Emotionen zurückhalten, um Leonie die bestmögliche Versorgung zu geben. Aber ich spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte. Der Gedanke an meine eigene Katze zu Hause ließ mich Leonies Schmerz für einen Moment fast körperlich spüren. In diesem Moment wurde mir klar, dass unser Job weit mehr war als nur medizinische Versorgung. Wir waren auch Zeugen und Teilnehmer in erster Reihe am Lebensabgrund anderer Menschen. Diese Verantwortung lastete schwer auf unseren Schultern, als ich mich wieder Leonie zuwandte und im Kopf Problemstellen durchging.
Problem Nummer 1: Vergiftungen durch Betablocker sind schwer therapierbar. Hohe Lipophilie, große Verteilungsvolumina und hochgradige Proteinbindung machen die Gegenwehr zu einem schwierigen Unterfangen. Für das Ausmaß der Toxizität ist die Fettlöslichkeit des Betablockers relevant – Propranolol ist besonders fettlöslich. Es kann die Blut-Hirn-Schranke überwinden und zu einer zusätzlichen zentralnervösen Symptomatik führen, die uns durch Krampfanfälle zusätzlich in die Parade fahren können. Es droht ein kardiogener Schock bis hin zur Asystolie. Spricht Atropin nicht an, käme als nächstes ein Versuch mittels Isoproterenol dran.
Isoproterenol ist ein sogenanntes nicht-selektives Sympathomimetikum. Das bedeutet, es dockt an beide Subtypen der Beta-1- und Beta-2-Adrenozeptoren an und aktiviert diese. Dadurch kann es die blutdrucksenkende und bronchodilatative Wirkung von Betablockern wie Propranolol teilweise antagonisieren und somit abschwächen. Weder hatten wir jedoch Isoprotenerol an Bord eines Rettungswagens noch Erfahrung damit. Was also nun? Einfach einladen und fahren? Aber das nächste Krankenhaus befand sich mindestens 25 Minuten Fahrt mit Sondersignal entfernt. Ohne ausreichenden Perfusionsdruck könnte das sogar bei einem jungen und normalerweise gesunden Menschen sehr eng werden.
Problem Nummer 2: Schlechte Sättigung, verminderte Atemfrequenz. Hierzu hatte ich keine Idee. Notarzt Boris meinte jedoch, dass dies ein Nebenkriegsschauplatz der Vergiftung mit dem Propranolol sein müsste, da das Propranolol die Funktion der Beta-2-Adrenozeptoren in der Lunge blockiere. Es kann also keine Bronchodilatation mehr stattfinden. Der Atemwegswiderstand steigt, was die Sauerstoffaufnahme erschwert. Zusammen mit der Kreislaufsituation hätten wir eine Indikation zur endotrachealen Intubation – was Notarzt Boris dann auch tat. Mit der Intubation samt Narkose bekamen wir zudem in den Griff, dass uns ein Krampfanfall die Tour nicht vermasselt.
Nun lag sie da – intubiert und beatmet, mit einigermaßen suffizientem Mitteldruck und einer akzeptablen Herzfrequenz. Wir als Rettungsdienst haben eine unserer Hauptaufgaben erfüllt und Leonie stabilisiert, um sie nun in ein Krankenhaus mit Intensivkapazität zu bringen und ihr Leben retten zu lassen. Medizinisch bedeutete dieser Einsatz für uns eine große Herausforderung. Es zeigte sich einmal mehr, dass das Team im Rettungsdienst jederzeit aus seiner Routine herausgerissen werden kann. Für viele Erkrankungen existieren zwar brauchbare Algorithmen, die uns helfen, den Fokus am Einsatzort nicht zu verlieren – aber eben nicht für alle Notfallsituationen. Das Unerwartete zu erwarten bedeutet, medizinisch konstruieren zu können – oder es zumindest zu versuchen. Es erfordert die Kaltschnäuzigkeit, etwas auszuprobieren, das man vorher noch nie versucht hat. In diesem Fall hat es funktioniert.
Manchmal, wenn ich vom Dienst nach Hause komme und Herr Schneider mich begrüßt, denke ich an Leonie und ihre geliebte Luzie. Ich weiß, dass Leonie den Suizidversuch ohne bleibende körperliche Schäden überstanden hatte. Doch vermutlich war das nur der Anfang eines langen Weges. Hat Leonie gelernt, mit ihrem Schmerz umzugehen? Konnte sie Freundschaften schließen, vielleicht sogar eine neue pelzige Gefährtin finden? Ich stelle mir vor, wie Leonie lächelnd durch einen Park geht, mit wiedergewonnener Lebensfreude in den Augen. Doch die Wahrheit ist: Ich weiß nicht, was weiter passiert ist. Niemanden aus dieser Familie habe ich je wiedergesehen.
Der Einsatz erinnert mich daran, wie fragil das Leben ist und wie tief der Schmerz eines Menschen sein kann. Leonies Schicksal mahnt mich, meiner Mitmenschen gegenüber noch aufmerksamer zu sein, zuzuhören und niemals die Kraft der Empathie zu unterschätzen. Auch wenn ich nie erfahren werde, ob Leonie ihr Glück gefunden hat, hoffe ich trotzdem inständig, dass sie irgendwo da draußen ist, geheilt und geliebt, vielleicht sogar mit einer neuen Katze an ihrer Seite. Ihre Geschichte wird immer ein Teil von mir bleiben – eine stille Erinnerung daran, warum ich diesen Beruf gewählt habe und wie wichtig es ist, für andere besonders in den dunkelsten Stunden da zu sein.
Quellen:
Reinhard Larsen: Anästhesie und Intensivmedizin in Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie. (1. Auflage 1986) 5. Auflage. Springer, Berlin/ Heidelberg/ New York u. a. 1999, ISBN 3-540-65024-5
Kardiakaintoxikationen, Springer. 2023
Schaper et al. Intoxication-related fatalities in northern Germany. European Journal of Internal Medicine, 2006. doi: 10.1016/j.ejim.2006.04.009
Lauterbach M. Clinical toxicology of beta-blocker overdose in adults. Basic & Clinical Pharmacology & Toxicology, 2019. doi: https://doi.org/10.1111/bcpt.13231
Rotella et al. Treatment for beta-blocker poisoning: a systematic review. Clinical Toxicology, 2020. doi: 10.1080/15563650.2020.1752918
Bildquelle: erstellt mit Midjourney