Ralf ist schon gekommen, aber Annette hat schon wieder keinen Orgasmus. Warum viele Frauen an Anorgasmie leiden und wie ihr helfen könnt, lest ihr hier.
Sinnlich, selbstbewusst und sexuell aufgeschlossen – das ist die Frau, die uns die moderne Popkultur immer wieder porträtiert. Die Wahrheit sieht aber etwas anders aus. Insbesondere in Sachen Sexualität liegt ein hoher Erwartungsdruck auf Frauen, was nicht zuletzt auch an moderner Pornografie liegt. Doch nicht jeder Frau ist es vergönnt, multiple Orgasmen oder auch nur einen einzigen Orgasmus zu erleben.
Tatsächlich leiden etwa 16–28 % der Frauen in Europa (sowie Vereinigte Staaten und China) und sogar bis zu 46 % der Frauen in asiatischen Ländern an Orgasmusstörungen. Dazu zählen verzögerte, unregelmäßige, aber auch ganz ausbleibende Orgasmen (Anorgasmie). Dass der Orgasmus ausbleibt, liegt bei Betroffenen von Anorgasmie häufig nicht an ungenügender Stimulation, sondern hat meist andere Ursachen. Diese können sowohl körperlichen als auch psychischen Ursprungs sein, weshalb die Diagnose, Ursachenfindung und Behandlung immer ein multidisziplinäres Unterfangen sein sollte.
Ein mögliches Tool zur Diagnose von Orgasmusstörungen ist der FSFI (Female sexual function index). Dabei handelt es sich um einen Fragebogen-basierten Index mithilfe dessen festgestellt werden kann, ob eine Orgasmusstörung vorliegen könnte und wie ausgeprägt diese ist. Außerdem kann der Fragebogen euch dabei helfen, Ursachen zu ermitteln, da er in verschiedene Bereiche gegliedert ist, z. B. Lust, Schmerz und Lubrikation. Patienten sollen so etwa angeben, ob sie in den letzten 30 Tagen Schmerz beim Sex empfunden haben, Probleme mit der Lubrikation hatten und ob sie zum Orgasmus gekommen sind. Bei der Diagnose von Anorgasmie gilt es zu klären, in welchen Situationen die Anorgasmie auftritt und seit wann diese besteht.
Generell lässt sich Anorgasmie in zwei Formen unterteilen: die primäre und die sekundäre. Bei der primären Anorgasmie haben Betroffene noch nie einen Orgasmus erlebt, während Betroffene von sekundärer Anorgasmie bereits einen Orgasmus hatten, aber seit mindestens sechs Monaten keinen mehr erlangen konnten. Außerdem gilt es zu klären, ob die Anorgasmie situativ (wie etwa nur mit einem bestimmten Partner) oder generalisiert auftritt.
Bei der Ursachenfindung müsst ihr Durchhaltevermögen beweisen, denn mögliche Auslöser gibt es viele. Auf physioneurologischer Ebene ist eine hormonelle Ursache wohl die naheliegendeste – insbesondere bei Frauen vor oder während der Menopause. Denn durch den Abfall der Östrogen-Level wird das Vaginalepithel dünner, es kann zu Atrophien in der glatten Muskulatur kommen und der pH-Wert kann steigen (> 4,5). Diese Veränderungen spielen nicht nur eine große Rolle für die Gesundheit der Vagina, die Libido und das Empfinden während des Sex, sondern stehen auch in Korrelation mit Anorgasmie von prämenopausalen Frauen.
Auch die einhergehende Scheidentrockenheit beeinflusst den sexuellen Höhepunkt. Das Verwenden von Gleit- und Feuchtcremes kann für viele Frauen bereits Abhilfe schaffen. Außerdem kann Östrogen in geringer Dosis vaginal verabreicht werden, in Form von Estradiol-Tabletten (E2; 10 µg), E2-Ring (7,5 µg E2/Tag über 90 Tage) oder E2-Creme (100 µg/g Creme). Durch die vaginale Gabe von Östrogen ist die systemische Absorption von Östrogen zwar gering, trotzdem empfiehlt sich insbesondere bei Frauen mit einer Vorgeschichte von hormon-sensitiven Krebsarten auch die Absprache mit dem behandelnden Onkologen.
Doch es gibt auch nicht-hormonelle Ursachen, wie etwa Übergewicht, Nervenschädigungen oder die Einnahme von Medikamenten wie etwa Antihypertensiva oder Antidepressiva. Insbesondere die Einnahme von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) kann die Libido beeinflussen, was wiederum eine Anorgasmie begünstigen kann. Hier empfiehlt sich gegebenenfalls eine Umstellung auf ein anderes Präparat, um der Orgasmusstörung entgegenzuwirken.
Ist vor allem die Erregung von Patientinnen gestört, steht ein möglicher Kandidat schon in den Startlöchern. In einer aktuellen Studie untersuchten Wissenschaftler die Wirkung einer Sildenafil-haltigen Creme auf die sexuelle Lust von Frauen. In einer ersten Untersuchung konnten sie durch die Gabe der Creme positive Effekte verzeichnen.
Wenn allerdings körperlich alles in Ordnung ist – ist dann alles nur in ihrem Kopf? Frauen wachsen meist mit einem hohen Erwartungsdruck auf. Die Popkultur diktiert Sex, Laszivität und doch Unschuld: Sei der verführerische Vamp, aber auch das Mädchen von nebenan, sei keine Frau für eine Nacht, aber dennoch die Frau, die jeder haben will. Gleichzeitig predigen Religionen, dass nur eine jungfräuliche Frau eine reine Frau ist und einige Kulturen erwarten, dass eine anständige Frau mit dem Sex auf „den Richtigen“ wartet. Das alles führt zu einer Ambivalenz und einem Schamgefühl beim Thema Sex. Insbesondere bei Betroffenen von primärer Anorgasmie liegen häufig religiöse oder kulturelle Ursachen zugrunde, die Sex zu etwas Negativem machen. Wenn Frauen und Mädchen keine Erfahrungen mit Masturbation gemacht haben, weil dies vom Umfeld tabuisiert wurde, kann dies möglicherweise eine spätere Anorgasmie begünstigen.
Daher ist ein wichtiger therapeutischer Ansatz auch die „gerichtete Masturbation“ (Directed Masturbation), bei der sich Patientinnen schrittweise an die Selbststimulation herantasten, um sicherer in ihrer Sexualität zu werden. Oft werden auch Vibratoren zur Stimulation eingesetzt. So können Betroffene ihre eigenen Vorlieben und ihren Körper besser kennenlernen und das Gelernte auch ihren Partnern kommunizieren. Im späteren Verlauf der Masturbation kann auch der Partner mit eingespannt werden, um das Gelernte zusammen umzusetzen. Dabei wird das Verwenden von beispielsweise Vibratoren empfohlen, um die Stimulation zu erhöhen.
Eine weitere Möglichkeit, um die Erfolgschancen zu erhöhen, ist die sogenannte coital alignment technique (CAT). Dabei handelt es sich um eine Stellung ähnlich der Missionarsstellung, bei der die Stimulation der Klitoris währenddessen maximal ist. Zwar verspricht das allein noch keinen Erfolg, doch insbesondere für Patientinnen, die schon einen Schritt weiter in ihrer Therapie sind, ist das sicherlich einen Versuch wert.
Natürlich gibt es etliche weitere Ursachen und Auslöser für Anorgasmie und andere Orgasmusstörungen. Darunter zählen z. B. das Erleben von sexuellen Übergriffen, Endometriose, Krebserkrankungen und vieles mehr. Doch oft fehlt es an klaren Handlungsempfehlungen oder wissenschaftlichen Studien. Generell lässt sich jedoch sagen, dass eine gute Aufklärung unabdingbar ist, ebenso wie multidisziplinäres Arbeiten, sowohl in der Diagnose als auch in der Behandlung. Und am aller wichtigsten: bietet für Betroffene einen sicheren Raum und nehmt die Probleme eurer Patientinnen ernst, denn das ist oft schon die halbe Miete.
Quelle:
Johnson et al. Preliminary Efficacy of Topical Sildenafil Cream for the Treatment of Female Sexual Arousal Disorder: A Randomized Controlled Trial. Obstetrics & Gynecology, 2024. doi: 10.1097/AOG.0000000000005648
Isidori et al. Development and validation of a 6-item version of the female sexual function index (FSFI) as a diagnostic tool for female sexual dysfunction. J Sex Med, 2010. doi: 10.1111/j.1743-6109.2009.01635.x.
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