Eine Hand auf dem Oberschenkel, der Griff zwischen die Beine oder onanieren vor der Pflegerin – sexuelle Belästigung ist längst im Gesundheitssystem angekommen. Wir haben euch gefragt, wie relevant das Thema ist. Hier sind eure Antworten.
Machtgefälle und Schutzbedürftigkeit von Personengruppen bieten immer schon die Grundlage für emotionale Ausnutzung oder gar sexuelle Übergriffe. Auch das Arzt-Patienten-Verhältnis mit seiner sehr speziellen Vertrauensgrundlage wird immer häufiger Bühne für verbale Ausrutscher oder gar Handgreiflichkeiten – auch in Deutschland. Doch sexuelle Belästigung findet auch ohne Patientenbeteiligung statt, unter Kollegen und zwischen Studenten und Dozenten. Wir wollten letzte Woche in dieser Umfrage eure Meinung hören. Hier sind eure Antworten.
Um die Relevanz korrekt einzuordnen, braucht es ein Verständnis für die korrekte Folge der Kausalkette, denn es ist nicht so, dass die Medien mit intrinsischem Interesse die Geschichten suchen und aufgrund des Clickbaiting vermehrt offenlegen. Viel eher trauen sich Geschädigte, zumeist Frauen, endlich häufiger ihr Leid zu teilen, Beratungsstellen aufzusuchen oder auch die Öffentlichkeit zu informieren. Eine erfreuliche Entwicklung, die hoffentlich anhält. (Achtung, Meinung!)
Jedenfalls trägt das gerechtfertigte mediale Echo so langsam auch Früchte. So sind in den vergangenen Jahren Beratungsstellen in den Ärztekammern etabliert, Einrichtungen wie die Charité oder die Universität Greifswald haben Kampagnen gestartet und Studentenkreise haben Initiativen gestartet. Und doch bleibt es nicht aus, dass man bei einem so sensiblen Thema natürlich mit den Betroffenen beider Seiten selbst spricht. Wer ist Opfer, wer ist Täter?
Zunächst einmal: Ein weiterer Punkt für die Relevanz-Skala – eure Beteiligung am Thema war rege. Neben den Fachärzten (36 %) meldeten sich insbesondere Allgemeinmediziner (17,6 %) und Krankenpfleger (8,7 %) zu Wort. Studenten machten 7,9 % und Notfallsanitäter 3 % aus. Auch eure Wahrnehmung für die Frequenz der Thematisierung ist vielfach sachlich eingeordnet. 41 % gehen davon aus, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz so akut ist wie in anderen Berufen auch und weitere 29,8 % halten es aufgrund des besonderen Näheverhältnisses von Arzt zu Patient für ein besonderes Thema. Auf der anderen Seite sagte jedoch auch 21,8 % der Befragten, dass hier „Kleinigkeiten hoch-stilisiert werden und es nicht in dem Ausmaß akut ist wie es medial aufgebauscht wird“. Für 7,2 % der Ärzte ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zudem kein Thema.
„Wie immer werden auch bei diesem Thema real existierende Probleme medial in einem Umfang beleuchtet, der ihrer Häufigkeit nicht entspricht. Kontakte zwischen ärztlichem Personal, das besser informiert ist und ‚am längeren Hebel sitzt‘ und Patienten, die Hilfe brauchen (und sich dafür ggf. sogar ausziehen müssen) sind potenziell schwierig – und gehen doch täglich millionenfach gut. Machen wir nicht den Fehler, nach Lehrern, Geistlichen und Sporttrainern jetzt alle Ärzte zu Lüstlingen und alle Ärztinnen zu Opfern zu machen!“, berichtet ein Arzt.
In Sachen Ursachenforschung geht knapp die Hälfte von euch (49 %) davon aus, dass eine weiblicher werdende Medizin und der steigende Arzt-Patienten-Kontakt dazu beitragen. Weitere 13,3 % sehen zudem bereits die Gefahr in den eigenen Reihen, da sich „männliche Kollegen zunehmend bedroht sehen“. Auf der anderen Seite sagt fast jeder vierte Arzt (23,9 %), dass kaum mehr Übergriffe stattfinden werden, weil mehr Frauen im Beruf sind. 16,6 % gehen mit der Hoffnung, dass es nicht mehr sexuelle Belästigung geben wird, weil mehr Informationsarbeit betrieben wird. 15,5 % möchten weniger über die Opferrolle von Frauen reden denn eher über weibliche Täter – angesichts von Femizid-Fällen in der vergangenen Woche eine fragwürdige Einstellung (Achtung, Meinung!).
Zu diesem Aspekt erreichten uns zudem konkrete Schilderungen wie von diesem Hausarzt:
„Wenn nachts die Krankenschwester im Eva-Kostüm vor dir steht, muss man sich als Jungassistent ganz schön rausreden, um nicht noch anschließend der Belästigung bezichtigt zu werden.“
„Als junger Arzt wurde ich im OP von einer Anästhesieschwester sexuell belästigt, obwohl viele andere Personen im Raum waren. Sie rieb ihre Brüste an meinem Rücken, was mir unangenehm war. Die Erfahrung hat aber keine bleibenden psychischen Schäden hinterlassen.“
Dass das Problem keinesfalls unter den Tisch gekehrt werden darf, wenn Ärzte auch Opfer sind, ist offensichtlich – so ist es doch unbestritten schwierig, eben diese Form der Belästigung glaubhaft darzulegen. Entsprechende Unsicherheiten und Vorsorgemaßnahmen wurden uns ebenfalls zugespielt:
„Es ist ein schwieriges Thema, wo früher eine Umarmung zum Geburtstag etc. noch ganz normal war, wird es heute schon als sexuelle Belästigung verstanden. Natürlich ist es was anderes wenn man jemanden unerlaubt an Stellen wie Brust, Po oder im Genitalbereich berührt.“
„Ich bin Allgemeinarzt, männlich und habe durchaus Sorge, dass notwendige Untersuchungen in Zeiten von MeToo mir als sexuelle Blästigung angelastet werden könnten. Ich bitte dann meine Mitarbeiterinnen mit ins Sprechzimmer. Insbesondere gegenüber Patientinnen, die verschleiert zur Untersuchung vorstellig sind. Hier kläre ich vorher auf und biete an, an Kolleginnen zu überweisen.“
Es bleibt aber: Man kann die Statistiken gar nicht so sehr wegdiskutieren, dass nicht klar wäre, dass das Gros der Übergriffe von Männern ausgeht. Laut euren Aussagen ist die Pflege dabei mit großem Abstand (69,3 %) der Ort mit den meisten Übergriffen. Gefolgt von der Psychotherapie (27,5%) und dem Studium (24,2 %). In der Allgemeinmedizin und in Notfallsituationen vermuten 15,3 % bzw. 10,9 % von euch die meisten Übergriffe.
Dass Frauen weit häufiger Opfer sind, mag auch die Menge an privaten Erlebnisberichten bestätigen, die uns erreichten. Folgendes ist (angehenden) Medizinerinnen in Behandlungssituationen widerfahren:
„Als Studentin habe ich das Onanieren von Patienten im Zimmer ignoriert. Als Assistenzärztin habe ich den männlichen Kollegen dazu geholt, weil die Sprüche dazu nicht mehr aushaltbar waren, u.v.m.“
„Als junge Hausärztin (32) sehe ich mich häufig mit Grenzüberschreitungen männlicher, zumeist älterer Patienten konfrontiert – von ‚Toll, dass wir jetzt so eine hübsche, junge Ärztin haben‘ über ‚Was, muss ich mein T-Shirt heute nicht ausziehen? Schade!‘ bis ‚Und? Hast du schon jemanden?‘ war schon alles dabei.“
„Ein Patient nutzte die Untersuchung für den Versuch der Selbstbefriedigung.“
„Patienten, die einem plötzlich die Hand aufs Knie legen. Patienten, welche angeben, enttäuscht zu sein, dass man kein Domina–Outfit trage – wo man doch offensichtlich gerne Menschen weh tue (operatives Fach). Häschen genannt werden oder offenes Starren auf die Oberweite – ist alles schon vorgekommen.“
Doch nicht nur der Patientenkontakt birgt für weibliche Mediziner die Gefahr sexualisiert zu werden. Auch die ärztlichen Kollegen schlagen über die Stränge.
„Bereits mit 17 wurde ich in der Klinik während meines Dienstes sexuell belästigt, die Konsequenz für den Täter war ein Telefonat mit der Chefärztin sowie ein 5-minütiges Gespräch mit mir, danach war das Thema beendet. Das Machtgefälle unter Kollegen wird oft ausgenutzt, man hat das Gefühl naiv gewesen zu sein und alleine damit zu sein, man verschweigt es denn, dass der OA oder CA Interesse an einem zeigt sei ja ein Kompliment.“
„Ich war NotSan, er Notarzt. Es war bekannt, dass er sehr anzüglich spricht. In einem Einsatz hat er mir jedoch an den Po gegrapscht und danach vor dem NEF-Fahrer noch damit angegeben, dass er sich halt einfach nicht zurückhalten konnte. Ich habs gemeldet und da ich Zeugen hatte, wurde er von einer Uniklinik als Anästhesist gekündigt.“
„Ich arbeite als OTA und es kommen sehr häufig perverse Sprüche oder es wird ungefragt der Arm um einen gelegt. Auf der Krankenhausfeier, wo u. a. Alkohol konsumiert wird, wird man auch begrapscht.“
„Ich habe im Praktikum zur Vorbereitung auf meine Ausbildung in einem Heilhilfsberuf einen direkten Übergriff durch einen Stationsarzt erlebt, der mich unter einem Vorwand in das Ärztebereitschaftszimmer gelockt hatte. Außerdem erhielt ich schon zwei Mal von Hausärzten anzügliche Kommentare.“
Wir konnten hier nicht alle Einsendungen beachten, da dies den Rahmen gesprengt hätte – danken aber für die offenen Berichte.
Zuletzt haben wir euch auch nach Lösungsansätzen gefragt. Hier bekamen alle vorgeschlagenen Ideen nahezu gleichermaßen Zuspruch. Von Schulungen und der Einbindung der Thematik ins Kerncurriculum über eine allgemein erhöhte Aufmerksamkeit, über Anlaufstellen für Betroffene bis zu härteren Strafen für Täter. Allerdings waren auch 17,4 % der Ärzte dafür, dass sich Betroffene „ein dickeres Fell und Resilienz zulegen“.
„Wir müssen dieses Thema ansprechen, in der Klinik, in Studium und auch öffentlich, viel zu oft wird es unter den Tisch gekehrt nach dem Motto ‚Was in der Klinik passiert, bleibt in der Klinik‘. Ich hoffe sehr, dass es zukünftig die Möglichkeit gibt, anonym Vorfälle zu melden und einer Meldung auch eine Konsequenz folgt. Es muss allen klar sein, was die Folge ist, wenn jemand zum Täter wird. Klar geregelte Konsequenzen würden meiner Meinung nach auch eine präventive Wirkung haben“, mahnt eine Ärztin.
Der Systemfehler, der dahintersteckt, beschreibt ein anderer Facharzt:
„Sexuelle Belästigung durch Patienten und Kollegen ist Teil der Normalität. Um einen sicheren Stand zu behalten, muss sich Frau gut überlegen, an welchen Punkten sie das Problem weiterverfolgt und wann es nicht sinnvoll ist oder auch die Kraft übersteigt. Auch das Aufsuchen des wohlmeinendsten Betriebsrats nach verbaler Attacke kostet viel Kraft, zumal (auch die weibliche) Unterstützung oft fehlt. Viele Ärztinnen scheuen (aus meiner Erfahrung) die Konfrontation auch bei deutlichen Übergriffen, um Ärger/Probleme zu vermeiden. Das führt zu fehlender Problemlösung und ungehinderten weiteren Übergriffen.“
Eine andere Ärztin berichtet von einem Stufenplan, den sie für sinnvoll erachtet. Darin müsse zunächst dem Aggressor verbal unmissverständlich die Meinung gesagt werden. Falls es notwendig sein sollte, sollte man sich auch körperlich wehren. Wirken die Worte nicht, sollte man Zeugen oder Dritte zur Hilfe holen. Das sei insbesondere dann essenziell, damit eine polizeiliche Anzeige Erfolg habe.
Bildquelle: Levi Meir Clancy, Unsplash