Vor 100 Jahren hatte der deutsche Arzt Fritz Kahn bereits Telemedizin, ePA und E-Rezept vorhergesagt – was als Science-Fiction galt, ist heute Realität. Doch seine kühnste Vision? Die steht uns erst noch bevor!
Der deutsche Arzt und Autor Fritz Kahn (1888–1968) war in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht nur ein herausragender Wissenschaftskommunikator – er skizzierte schon damals zahlreiche Möglichkeiten der Telemedizin. Welche seiner Visionen sind Realität geworden? Schauen wir uns das mal an.
Streng genommen schlug bereits am 10. März 1876 die Geburtsstunde der Telemedizin. Der als Erfinder des Telefons berühmt gewordene Alexander Graham Bell (1847–1922) nutzte seine Apparatur, um im Nebenzimmer bei seinem Kollegen Thomas A. Watson (1854–1934) medizinischen Rat einzuholen: Bell hatte sich Säure über den Anzug geschüttet. Das Telefon war nur eine der Erfindungen, die bereits Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Weg ebnete, um über weite Strecken miteinander kommunizieren zu können. Visionäre wie der deutsche Arzt Fritz Kahn sahen darin bereits das Potenzial, eine Art Telemedizin zu praktizieren.
Kahns Interessen waren breit gefächert: Ihm gelang es bereits in den 1920er-Jahren, mit seinen hunderttausendfach verkauften und in viele Sprachen übersetzen Büchern die Vorgänge des Körpers mit einprägsamen Metaphern allgemeinverständlich darzustellen. Berühmt geworden ist etwa die Darstellung „Der Mensch als Industriepalast“, um grundlegende physiologische Vorgänge wie Atmung, Herzschlag oder Verdauung wie Produktionsschritte in einer Fabrik plakativ darzustellen.
Fritz Kahn: „Der Mensch als Industriepalast“, CC0
Da den Nationalsozialisten seine jüdische Herkunft und Buchthemen wie „Unser Geschlechtsleben“ (Kahn war unter anderem Gynäkologe) allerdings ein Dorn im Auge waren und seine Bücher verbrannt wurden, geriet der Arzt in Deutschland in Vergessenheit. Er selbst hat das Land 1933 verlassen und ist erst nach Haifa und später nach Jerusalem emigriert.
Kahn hatte visionäre Ideen wie im Buch „Arzt der Zukunft“, dessen erste Veröffentlichung sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährt. Noch zweimal überarbeiteten Kahn und von ihm beauftrage Illustratoren die Darstellung und den begleitenden Text.
Fritz Kahns „Arzt der Zukunft“, CC0
Bereits die erste Darstellung zeigt einen Arzt, der in seiner Praxis am Schreibtisch steht – vor sich auf einem Bildschirm ein Röntgenbild, ein Instrument, das einen Blutdruck anzeigt, sowie eines für die Temperatur. EKG und Atemkurve werden auf einem weiteren Display dargestellt. Aus einem Schalltrichter ertönen Herztöne – alles bezogen auf räumlich weit entfernte Patienten und gesteuert mit einem Instrumentenpult auf dem Tisch des Arztes. Die Darstellung ein Jahr später unterscheidet sich durch einen deutlich jüngeren Arzt – und ein Telefon ist dazugekommen.
1939 wird daraus ein „Weltarzt“, der per Funkwellen die Parameter eines Patienten auf einem Schiff entsprechend in Augenschein nimmt – und ihn auf einem Fernsehmonitor auch sehen kann.
Die Ferndiagnose werde „eine neue Ära der medizinischen Praxis einläuten“, schreibt Kahn. In dem begleitenden Text von 1934 postuliert er auch das E-Rezept, das ein Weltarzt aus seiner Telepraxis an die Hausärzte der Patienten schickt. Kahn nimmt auch die Möglichkeit, Spezialisten per Telemedizin zu konsultieren, vorweg. Eine Kommission führender Spezialisten aus verschiedenen Bereichen steht bereit, um – wie er schreibt – „besonders wichtige medizinische Fälle für Ärzte in allen Ländern zu beurteilen“.
100 Jahre später ist klar, dass Kahn mit vielen seiner Visionen recht behalten sollte. Seit Beginn der bemannten Raumfahrt in den 60er-Jahren überwachten Ärzte der NASA-Bodenstation zahlreiche Vitalparameter von Astronauten. Selbst beim ersten Lebewesen im All, der Hündin Laica an Bord der sowjetischen Sputnik-2-Kapsel 1957, übermittelten Sensoren die Vitalparameter – letztlich eine Anwendung von Telemedizin als Telemonitoring.
Die Fernbeurteilung digital übermittelter Röntgenbilder als Telediagnostik ist mittlerweile Standard. Telefon- und Videokonferenzen von Arzt zu Arzt als sogenanntes Tele-Konsil oder als Tele-Notarzt-Projekte haben sich bewährt.
Und spätestens seit der COVID-19-Pandemie sind Tele-Konsultationen per Videosprechstunde in vielen Fällen ermöglicht worden. Sie haben mittlerweile einen sicheren rechtlichen und datenschutzrechtlichen Rahmen bekommen. Zusammen mit der Einführung elektronischer Rezepte und elektronischer Patientenakte macht die Telemedizin weitere Sprünge nach vorn.
Dass sich aber noch nicht jede Vision früherer Zeiten bewahrheitet hat, zeigt das „Teledactyl.“ Hugo Gernsbeck (1884–1967), Verleger und Science-Fiction-Autor, hatte um 1925 in seinem Technikmagazin „Science and Invention“ skizziert, ein Arzt könne über ferngesteuerte Arme und Kamera bzw. Monitor Patienten aus der Ferne sogar abtasten. Doch auch daran arbeitet die Wissenschaft: Erforscht werden u.a. Tele-Tasthandschuhe, um Chirurgen das Gefühl zu geben, dass sie tatsächlich den Körper eines Patienten berühren bzw. Eingriffe an ihm durchführen.
Quelle:
Voltin C. et al. Fritz Kahn and the Centenary of The Doctor of the Future. JAMA. 2024; 331(21):1786–1788. doi:10.1001/jama.2024.6041
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