KOMMENTAR | Die Online-Arztpraxis ZAVA liefert mit einer eigens durchgeführten Studie eine gute Geschichte: Münster ist die Stadt mit den meisten Sorgen über Stress. Wie kann das nur sein? Vielleicht weil die „Studie“ dahinter ziemlich miserabel ist.
Gottlob gibt es Studien. Ohne sie würden Ärzte wie zu Galens Zeiten auf vorwissenschaftlichem Niveau vor sich hin dilettieren. Nur Studien erlauben Erkenntnisgewinn – vom dramatischen Augenschein (Messer in Wunde steht in kausalem Zusammenhang mit Schmerzen) einmal abgesehen.
Auch Laien haben inzwischen verstanden, dass Studien etwas sind, womit Wissenschaftler Vermutungen beweisen. Nur leider wurde beizeiten versäumt, den Begriff zu schützen. So darf auch jeder Hobbyforscher jede systematisierte Erfahrung als Studie bezeichnen. Was läge da näher, als den Begriff, sagen wir, zu überspannen.
Wenn ein seriös wirkender Mensch (weißer Kittel!) anhand einer Wellenkurve darlegt, dass eine in intensiver Forschungsarbeit entwickelte Hautcreme ganz erstaunliche Effekte erzielt, und Menschen nachweislich um 4,2 Jahre später alt aussehen lässt, dann sollte dem aufgeklärten Laien dämmern, dass hier nicht die Universität Oxford die Federführung hatte.
Studien sind zarte Pflänzchen, auf denen Viele herumtrampeln. Mit schlimmen Folgen: Wenn Studien Unsinn zu belegen scheinen, verwischen die Grenzen zwischen Wissen und Glauben, und wenn man einmal die Erfahrung gemacht hat, dass man sich auf die Wissenschaft nicht verlassen kann, erodiert das Vertrauen. Dann öffnen sich Schwurblern und Manipulierern Tür und Tor. In Zeiten von Fake News eine verstörende Aussicht.
Bevor ich die Studie geißle, um die es hier konkret gehen soll, sei kurz erwähnt, was eine verlässliche Studie ausmacht. Das erste ist das Design: In klinischen Studien sollen Probanden per Zufallsprinzip auf die Interventions- und auf die Kontrollgruppe aufgeteilt werden, damit die Gruppen vergleichbar sind. Eine Verblindung von Probanden und Studienpersonal ist hilfreich, aber nicht immer machbar. Die Größe dagegen spielt, anders als viele vermuten, per se keine Rolle – es gibt auch aussagkräftige n=1-Studien.
Das zweite ist die a-priori-Plausibilität: Wenn eine Wirkung komplett unplausibel ist, kann das Ergebnis nur ein Artefakt sein, Beispiel Studien zur Wirkung homöopathischer Mittel. Das dritte ist die Effektgröße: Die Outcomes in den Gruppen müssen sich schon deutlich unterscheiden, damit das Ergebnis etwas aussagt. Merke: Der p-Wert ist nicht das Maß aller Dinge! Das vierte schließlich ist die Interpretation: Man soll sich vor überzogenen Schlussfolgerungen hüten. Eine Kohortenstudie etwa kann niemals einen Kausalzusammenhang begründen, also darf man ihn auch nicht behaupten.
Nun zum konkreten Beispiel: Die Online-Arztpraxis ZAVA hat auf ihrer Webseite eine Studie veröffentlicht – in der Mitteilung von ZAVA wahlweise auch Recherche oder Analyse genannt – „um herauszufinden, welche deutschen Städte von den größten Sorgen um Stress geplagt werden“, so ZAVA. An sich eine interessante Frage. ZAVA hat dafür lokale Suchdaten zum Thema Stress in Städten mit mehr als 300.000 Einwohnern analysiert. Das schlagzeilentaugliche Ergebnis: „Münster ist die Stadt Deutschlands mit den meisten Sorgen über Stress.“ Vom anderen Ende der Skala winkt ganz entspannt Bremen. Ohne Münster und Bremen zu nahe treten zu wollen: Wer hätte das gedacht!
Wie sagte ein Freund über eine andere Studie so nett: Die Evidenz ist zwar miserabel, aber das Ergebnis ist einfach zu schön, um nicht erwähnt zu werden. Also die Frage: Wie gut oder miserabel ist die Evidenz bei der ZAVA-Studie? Nehmen wir unsere vier Kriterien von oben.
„Rein auf Basis von lokalen Suchdaten auf das städtische Stresslevel zu schließen, ist plakativ, stark verkürzt und unseriös“, sagt Umfrageexperte Marcel Drews, Geschäftsführer der Unternehmensberatung aserto. „Wenn man das richtig aufsetzen wollen würde, müsste man vermutlich eine Kombination aus medizinischen Messmethoden und einer Befragung anwenden.“ Warum sich ZAVA dann die Mühe gemacht hat, die Zahlen zu erheben und eine Mitteilung dazu abzusetzen? Drews vermutet PR-Zwecke. Dazu sollte man mal eine Studie machen.
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