Durchschnittlich 13,9 Semester verbringt ein angehender Arzt an einer Hochschule, um wissenschaftlich fundierte Medizin zu lernen. Doch nach der Approbation werden einige fahnenflüchtig. Ein Erfahrungsbericht.
REPORTAGE | Ein schwüler Donnerstag in einer deutschen Großstadt. Ich stehe vor dem Altbau, in dem ich gleich in die Welt der Alternativmedizin eintauchen werde. Das Haus: aufgeräumt und modern. Keine Klangschalen oder Buddhas verbauen den Weg in die Praxis. Drinnen erwartet mich ein seltsames Exemplar – ich werde auf einen approbierten Arzt treffen, der Homöopathie & Co. anbietet.
Bereits im Wartezimmer stimmen mich die obligatorischen Allwetter-Sandalen meiner Mitpatienten auf meinen Abschied von der Schulmedizin ein. Ja, genau deswegen bin ich hier: Ich will wissen, ob Homöopathie meinen Magenschmerzen Abhilfe leisten kann. Von einem Mann, der aus der Schulmedizin kommt und nun auf TCM und Co. macht. Mein konkreter Fall: Bauchschmerzen, „Magendarm“, unspezifisch und vermutlich kurz vor einer Chronifizierung. Einen Betrag von 50 Euro für die Erstellung eines „ganzheitlich-naturheilkundlichen Behandlungskonzepts“ ist mir das Experiment wert.
Zwischen Adeltraut und Heidbert (vorsorglicher Datenschutzhinweis: Namen frei erfunden) sitze ich nun und studiere einige vielsilbige Prospekte über Mitochondrientherapie und Kinesiologie. Kurz darauf geht es los. Ich darf meine Leidensgeschichte schildern. Vermutlich ein Glück im Unglück, dass mir die Standarddiagnosen und entsprechende therapeutische Mittel bekannt sind und ich mit den Einwürfen wie „Gastritis“ und „Refluxösophagitis“ eine grobe Einordnung vornehme, um die wildesten Theorien im Keim zu ersticken. Als die Sprache auf Lebensmittelunverträglichkeiten kommt, nimmt die Achterbahn langsam Fahrt auf. Über eine Form der Kinesiologie – wir erinnern uns: irgendwelche „Blockaden“, die ganzheitlich ausgetrieben werden müssen – könne nicht nur die Belastung mit Pestiziden und der Befall mit Parasiten hergeleitet werden, sondern eben auch jede Form der Nahrungsunverträglichkeit ... nach ein paar Sitzungen, versteht sich.
Die „unglaublich anmutende Methode“ der Kinesiologie ist allerdings auch entsprechend teuer. Ein erster kinesiologischer großer Checkup soll 95 Euro, ein Ersttest auf Nahrungsmittelunverträglichkeit stolze 165 Euro kosten. Da sind die Nachteste mit 25 Euro geradezu ein Schnäppchen. Vielleicht doch besser die homöopathische Erstanamnese für 120,65 Euro? Ich bin unentschlossen.
Die Kosten zum Homöopathie-Einstieg im Überblick. Credit: DocCheckFairerweise muss man erwähnen, dass immer wieder der Hinweis fällt, dass man mein Krankenkassenkärtchen bräuchte, da die Kassen einen Teil der Kosten übernähmen. Nett – und sicher sinnvoll anbetrachts stetig steigender Beitragssätze.
Warum die Nachfrage, wo ich mich doch als lukrativer Selbstzahler geoutet habe? Nun, die Abrechnung von GKV-Patienten ist für homöopathisch arbeitende Ärzte sehr attraktiv. Denn mit manchen Kassen können sie die Erstanamnese über den Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) abrechnen – ohne Plausbilitätsprüfungen oder Darlegung von Zeitprofilen. Das verleitet dazu, es mit den Zeitvorgaben nicht so genau nehmen, munkelt man. Weiteres Schmankerl: Die unter homöopathischer Flagge abgerechneten Behandlungen werden nicht auf das Budget angerechnet. So setzt man Prioritäten in der Gesundheitsversorgung.
Zurück ins Gespräch – obwohl ich eigentlich Homöopathie wollte, gibt es nun auch noch Aufklärung in Sachen Traditioneller Chinesischer Medizin. Die Klaviatur der Alternativmedizin hat schließlich viele Tasten. Meine gastritischen Bauchschmerzen würden hier beispielsweise als „Magenfeuer“ oder „Magenhitze“ diagnostiziert, das aus einem unausgeglichenen Magen-Qi kommt. Mit Sicherheit könne man das aber erst nach einem speziellem Anamnesegespräch (83,90 Euro) sagen. Ob meine Magen-Energie (Qi) sich dann wieder aufgeladen hat, ist aber auch nicht sicher – die Therapie bis hierhin wäre eine individuelle Kräutermischung, die mir für 6 Monate monatlich neu angemixt würde – für rund 40 Euro pro Töpfchen.
Homöopathische Leistungen und Preise in der Übersicht. Credit: DocCheck
Ich weiß nicht, ob ich zu diesem Zeitpunkt bereits zu viele Fragezeichen im Gesicht hatte oder die Schreie meines Portmonnaies zu vernehmen waren. Jedenfalls kam kurz vor Schluss der Schwenk in Richtung Reformhaus-Mittelchen. Da kann ja kaum was schief gehen. Vorsorglich und bis zur genaueren Diagnostik sollen nun Heilerde und Amara-Tropfen (ebenfalls 35 Euro) das lodernde Magenfeuer besänftigen.
Die Erstverordnung aus der Apotheke. Credit: DocCheck
Unterm Strich bleibt: Wer gründlich auf alternativmedizinischem Weg geheilt werden will, darf einiges berappen:
Beispielrechnung
Ganzheitliches Konzept: 50 Euro
Großer kinesiologischer Checkup: 95 Euro
Ersttest Nahrungsmittelunverträglichkeit: 165 Euro
TCM-Anamnese: 83,90 Euro
Kräutermixturen: 6 * 40 Euro
Heilerde/Amaratropfen: 34,90 Euro
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668,80 Euro
Ein stolzes Sümmchen. Und ob die Odyssee danach ein Ende hätte, steht in den Sternen. Bieten doch Magnetfeld-, Mitochondrien-, Colon-Hydro-, Bioresonanz-, Moxa- und Eigenbluttherapie weitere obskure Heilversprechen. Da fragt man sich schon, ob nicht Mammon den Blick auf die Evidenz langfristig vernebelt hat.
Nach der Erst-Abrechnung am Tresen geht’s für mich ohne Folgetermin aus der Praxis – Vitamininfusionen, HRV-Messung und Globuli hinter mir lassend, atme ich vor der Tür tief frische Luft ein und ertappe mich dabei, ob nicht das auch vermarktet werden könnte – vielleicht als „Aerotherapie“? Kurz nach einem wenig ernst gemeinten Marketing-Brainstorming ist für mich aber klar: Ich bleibe zunächst bei Ultraschall, Gastroskopie und Serologie.
Bildquelle: Erstellt mit Midjourney.