Die Patientin hat ihre Hände wie zum Gebet gefaltet. Der Krebs ist zurück. Dieser Einsatz erinnert mich daran, wie schnell alles vorbei sein kann – und gibt mir die Entschlossenheit, meine Zeit nun besser zu nutzen.
Eine Rettungsdienst-Schicht in einem heißen Sommer: Wir biegen in die Straße einer anonymen Wohngegend im Münchner Norden ein und steuern auf einen pastellgelb gestrichenen Plattenbau zu, der aus den Siebzigerjahren stammen muss. Die Luft steht bei 38 Grad Außentemperatur und Windstille. Hunderte von Klingelschildern an etlichen Häusern später rollen wir endlich vor den richtigen Wohnblock. Die junge Tochter der Patientin empfängt uns auf der Straße stehend mit den Worten: „Sie muss wieder ins Krankenhaus.“
Die Frau hat ihre Hände wie zum Gebet gefaltet. Der Krebs ist zurück. Er hat sie in seinen Fängen und ist gerade dabei, sie zu töten. Die Patientin weiß das. Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs – eine Krebsart mit miesen Aussichten und einer der niedrigsten Überlebensraten. Nun sitzt sie auf dem Stuhl neben ihrem Ehemann, der selbst gerade eine Chemo hinter sich hat und dem Tod noch näher ist als sie selbst. Ihr eingefallenes, milchweißes Gesicht saugt das bisschen Sauerstoff in sich hinein, welches aus dem brummenden Konzentrator blubbert. Sie habe so Bauchschmerzen und nichts helfe dagegen. Wie ein Flächenbrand hat sich der Krebs im Körper ausgebreitet. Ende der Teerstrecke – und das in einem Lebensalter, das mindestens noch einmal so lange hätte dauern können.
Sofort sehe ich meinen randvollen Terminkalender und meine maßlos überplanten Dienste des kommenden Monats vor meinem geistigen Auge. Bilder blitzen auf von Sachen, die ich seit langem vor mir herschiebe: Mit einem Wohnmobil auf die Lofoten fahren, einen Marathon laufen, noch ein paar Sachen am Haus verändern, Musik und mehr Sport machen, mehr Zeit für mich. Oder Freunde besuchen, die ich so lange nicht gesehen habe. Das letzte Gespräch mit meinem besten Freund fällt mir ein:
„Wir müssen uns mal wieder treffen.“
„Gerne.“
„Aber wann?“
„Mal schauen.“
Dann passierte lange Zeit wieder nichts.
Einen anderen Freund, den ich seit über dreißig Jahren kenne, sehe ich nur noch alle sechs oder sieben Jahre – wenn überhaupt. Lange Zeit haben wir zusammen abgehangen und eine Menge unternommen. Jetzt ist er 56, und gesundheitlich sehr angeschlagen. Wenn wir das so weiterführen, sagte er bei unserem letzten Telefonat, dann sehen wir uns vielleicht noch zwei Mal in diesem Leben. „Man weiß nie, wann der Engel zuschlägt“, sagte er noch und legte auf. Seitdem hörte ich wieder nichts von ihm.
Er hat recht: Blöderweise nimmt der Todesengel keine Rücksicht darauf, ob man jemanden schon lange nicht mehr gesehen oder wie viel Zeit man mit ihm verbracht hat. Irgendwann ist es zu spät. Irgendwann ist das Leben voll von fortgeworfener Zeit, und Träume sind einfach zu lange her. Irgendwann sitzt man mit seinem Sauerstoffkonzentrator auf einem abgeranzten Sofa in einer kleinen, stickigen Bude vor der Glotze. Während die Uhr weitertickt, erkennt man dann die echten Prioritäten des eigenen Lebens.
Auf dem Weg in die Klinik fühle ich eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Entschlossenheit. Die Patientin und ihr Ehemann erinnern mich daran, dass das Warten auf den perfekten Moment oft bedeutet, dass man diesen Moment vielleicht nie erleben könnte. Deren beider Leben ist zu einem erbarmungslosen Wettlauf gegen die Zeit geworden, und ich frage mich, ob ich meine eigene Zeit so gut nutze. Was, wenn ich irgendwann an der Stelle der Beiden bin? Was, wenn mir dann all die unerfüllten Träume und verpassten Gelegenheiten im Nacken sitzen?
Die wahre Dringlichkeit des Lebens liegt doch nicht nur in unseren beruflichen Verpflichtungen und sinnloser Betriebsamkeit, sondern in unseren persönlichen Träumen und Beziehungen. Nur ich selbst kann sicherstellen, dass ich meine Lebenszeit so nutze, dass ich am Ende keine Reue verspüre. Die Prämisse dieser Geschichte ist klar: nicht auf den perfekten Zeitpunkt zu warten, um Träume zu verwirklichen und um die Zeit mit den Menschen zu verbringen, die einem wichtig sind.
Der perfekte Zeitpunkt ist jetzt.
Nutze jeden Tag, als wäre er der letzte, denn eines Tages wirst du damit recht haben.
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