Der Glaube an Multivitamin-Pillen oder zumindest die „Kann-ja-nicht-schaden-Überzeugung“ sind ungebrochen. Der wissenschaftliche Tenor ist aber ein anderer – sterben NEM-Fans vielleicht sogar früher?
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Gezielt ausgewählt und individuell dosiert anstatt nach dem Gießkannenprinzip! In medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Fachkreisen dominiert die Auffassung, dass Nahrungsergänzungsmittel (NEM) der Prävention und/oder dem Ausgleich von Mikronährstoffmängeln für entsprechende sensible Personenkreise dienen. Ursache solcher Sensibilität können besondere Lebenssituationen (z. B. Schwangerschaft), Verhaltensweisen (Hochleistungssport, Mangel an natürlicher Sonnenlichtexposition), aber auch Malabsorptionssyndrome, Nahrungsunverträglichkeiten oder andere mit erhöhten Nährstoffmangelrisiken verbundene Vorerkrankungen sein.
Unbeeindruckt von derlei Vorgaben, herrscht in weiten Bevölkerungskreisen die Ansicht vor, dass konzentrierte Vitamine, Mineralstoffe und so manch anderes Wohlklingendes als Dragee, Brausetablette oder Fluid konsumiert, jedem Organismus guttut. Nach einer repräsentativen Umfrage des Portals „Statista Consumer Insights“ konsumieren drei Viertel der in Deutschland lebenden Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren im Vertrauen auf gesundheitlichen Nutzen NEM, wobei Vitamine mit einigem Abstand vor Mineralstoffen ganz oben auf der Beliebtheitsskala stehen.
Eine ärztliche Beratung mit serologischer Bestimmung des Mikronährstoffstatus findet nur in seltenen Fällen statt. NEM-Einnahme nach Gutdünken („kann ja nicht schaden“) macht den Löwenanteil der Konsumenten aus. Und da man nicht weiß, ob einem etwas fehlt, und wenn ja, was und wieviel davon, erscheint es doch am besten, die ganze Palette einzuwerfen. Wozu gibt es schließlich Multivitaminpräparate (MVP)?
Durch eine Pille mit allem versorgt, da kann nichts mehr schiefgehen, so die verbreitete und durch lautstarkes Herstellermarketing unterfütterte Auffassung. Hinlänglich belegte Überdosierungsrisiken sind unter Konsumenten offenbar nicht bekannt oder gelten als nicht beachtenswert. Stellvertretend seien hier genannt:
Vor dem Hintergrund der großen Beliebtheit – auch in den USA nimmt jeder Dritte im Glauben an universell krankheitspräventive Wirkungen regelmäßig MVP ein – ist eine Arbeitsgruppe um Dr. Erikka Loftfiled vom National Cancer Institute in Rockville/Maryland auf die Suche nach epidemiologischen Assoziationen zwischen MPV-Einnahme und Bevölkerungssterblichkeit gegangen. In ihrer 2024 im JAMA Network publizierten Studie analysierte sie das Datenmaterial von drei prospektiven US-amerikanischen Kohortenstudien („National Institutes of Health–AARP Diet and Health“ (Studie zu Ernährung und Krankheitsrisiken), „PLCO Cancer Screening Trial“ (Krebsfrüherkennungsstudie); „Agricultural Health Study“ (Studie zu Pestizidwirkungen bei Landwirten).
Die Daten von über 390.000 Erwachsenen, die anamnetisch weder mit Krebs noch einer anderen chronischen Erkrankung vorbelastet waren, flossen schließlich in die Analyse ein. Die Nachbeobachtungsdauer betrug bis zu 27 Jahre. Primäres Ziel der Arbeit war die Prüfung der Hypothese, dass die tägliche MVP-Einnahme mit einer geringeren Gesamtsterblichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Haupttodesursachen – Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen – verbunden ist. Der hohen Bias-Anfälligkeit wurde durch multivariables Herausrechnen potenzieller Verzerrungsfaktoren (Ethnie, Geschlecht, Alter, Rauchen, Alkohol, Ernährung, BMI, körperliche Aktivität, Bildungsniveau und weitere) Rechnung getragen. Die Informationen zum MVP-Konsum (verschiedene Kategorien von „nie“ bis „täglich“) wurden in allen drei Kohorten jeweils zu Studienbeginn sowie zu mehreren Zeitpunkten während der Nachbeobachtung per Fragebogen gewonnen.
Über die fast drei Dekaden währende Gesamtbeobachtungsdauer verstarben von den 390.124 zu Beginn gesunden, ein Durschnittalter vom 61,5 (38–66) Jahren aufweisenden Personen (♂:♀ = 55:45) knapp 42 %. Unter den Verstorbenen machten Krebs mit circa. 30 % gefolgt von Herzkrankheiten mit 21 % und zerebrovaskuläre Schäden mit 5,6 % die höchsten krankheitsbedingten Todesursachen aus. Weder hinsichtlich der Gesamtmortalität noch bezüglich der häufigsten Todesursachen war für die regelmäßige MVP-Einnahme ein reduzierender Effekt nachweisbar. Im Gegenteil: Die multifaktoriell um genannte Einflussfaktoren bereinigte Sterberate bei den täglichen MVP-Konsumenten lag signifikant um 4 % höher als bei den Nicht-Konsumenten (multivariabel adjustierte HR 1,04; 95 % KI; 1,02–1,07). Subanalysen mit Stratifizierung nach Geschlecht, Alterskategorie, Ethnie, Raucherstatus, Alkoholkonsum, BMI u. w. hatten auf dieses Ergebnis keinen signifikanten Einfluss.
Dass eine statistische Analyse, auch wenn die sie die Daten von drei großen randomisierten Kohorten poolt, keine Kausalitäten aufdecken kann, versteht sich von selbst. Ob also tatsächlich die konzentrierte MV-Aufnahme (mit)ursächlich für das etwas erhöhte Sterberisiko ist, bleibt fraglich, zumal die Art des konsumierten MVP und damit auch die Dosierung der einzelnen Vitamine keine Berücksichtigungen fanden. Ein erwähnenswerter Aspekt in diesem Kontext ist der im Juni 2024 von einer Arbeitsgruppe der „Heads of Food Safety Agency“ (HoA) – das ist die Leitungsebene der höchsten europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit – herausgegebener „First Report Food Supplements“.
Auf Basis gesammelter Forschungsdaten listet die Gruppe, in der Vertreter aus 26 europäischen Ländern tätig sind, in diesem Bericht 117 potentiell gesundheitsgefährdende Inhaltsstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln auf. Diese Substanzen sollten nicht oder nur eingeschränkt in NEM eingesetzt werden. 65 dieser Substanzen werden als „neuartig“ und daher in ihren Schädigungspotenzial noch nicht hinreichend untersucht eingestuft. 13 werden bei Aufnahme über NEM wegen der deutlich die normale Aufnahmemenge übersteigenden Dosis als risikobehaftet bewertet. Hierzu zählen beispielsweise Cumarin, Curcumin, Lepidium meyenii (Maca) und Withania somnifera (Ashwagandha).
Die HoA hat diese Liste für den europäischen Markt einstimmig verabschiedet. Die Umsetzung mit dem Ziel entsprechender gesetzlicher Regelungen ist gerade erst angelaufen. Inwieweit „unschöne“ Zutaten aus dem Bereich von Konservierungs- und Bindemitteln, Farb-, Aroma- und anderen „E-benummerten“ Stoffen dazu beitragen, dass MVP offenbar keinen positiven, wenn nicht gar einen nachteiligen Effekt auf die Gesundheit entfalten, ist bislang spekulativ. Man sollte es aber im Auge behalten und – sofern man NEM-Verwender ist – ruhig mal einen Blick auf die meist ärgerlich klein gedruckte Zutatenliste riskieren.
NEM sind nicht dafür konzipiert, eine von Unlust auf mikronährstoffdichte Lebensmittel charakterisierte Fast-Food-Ernährungskultur oder das Praktizieren trendiger einseitiger Ernährungsphilosophien zu ermöglichen. Vielmehr geht es um den Ausgleich bzw. die Prävention von Defiziten, die bestimmten Lebenssituationen und/oder krankhaften Versorgungsstörungen geschuldet sind. Da NEM rechtlich keine Medikamente/Medizinprodukte, sondern als Lebensmittel deklariert sind, ist für ihre Markteinführung kein studienbasierter Wirkungsnachweis erforderlich. Ein NEM muss vom Hersteller lediglich beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) gemeldet werden.
Damit werden zulässigen Werbeaussagen gewisse Schranken wie das Verbot mit krankheitsvorbeugenden oder heilenden Inhalten zu ködern, auferlegt. Auch darf nicht der Eindruck einer Notwendigkeit des NEM-Konsums zur Nährstoffdeckung vermittelt werden. Trotz aller Auflagen ist die Marketingbranche kreativ genug, Slogans zu formulieren, die den Eindruck einer gesundheitsfördernden, wenn nicht gar kurativen Wirkung zu vermitteln. Problematisch bei alledem ist, dass für die NEM-Sicherheit allein die Hersteller zuständig sind. Das verpflichtet sie zwar über potentiell riskante Inhaltsstoffe wie Allergene zu informieren. Zu Kontraindikationen der Einnahme oder den zahlreichen bekannten Wechselwirkungen mit Medikamenten, müssen jedoch keine Hinweise geliefert werden. Auch fehlt eine EU-weit gültige Höchstmengenregelung und sonstige, möglicherweise problematische Zusatzstoffe müssen ohne jeden Warnhinweise lediglich auf der Verpackung aufgeführt werden.
Dass die Ernährungswissenschaft aufgrund der fehlenden Praktikabilität randomisierten Interventionsstudien über lange Zeiträume kaum Kausalitäten aufdecken kann, ist eine gleichermaßen unbefriedigende wie schwerlich zu lösende Situation. Auch die mit dem Befragungsdesign verbundenen Unsicherheiten, die den allermeisten Ernährungsstudien anhaftenden, wurden im DocCheck-Forum oft genug diskutiert. Mit diesem Bias muss man in der Ernährungswissenschaft leben. Immerhin lässt sich vermuten, dass die MVP-Einnahme weit weniger schambehaftet ist als vermeintliche kulinarische Sünden aus der „Süß-und-fettig-Ecke“. Somit besteht zumindest die Hoffnung, dass die Selbstauskünfte der Probanden in den analysierten Studienkohorten keine allzu weite „Subjektiv-objektiv-Schere“ aufweisen.
Eingedenk der prinzipiell begrenzten Verlässlichkeit statistischer Datenanalysen liefert die Arbeit keine Gründe, von der Strategie abzuweichen, Supplemente nur dann gezielt und individuell dosiert zur Behandlung (serologisch) gemessene Nährstoffdefizite einzusetzen, wenn eine hinreichend Versorgung über die alltägliche Kost nicht möglich ist. Getreu dem „Viel-hilft-viel-Mythos“ mit der MVP-Gießkanne einen möglicherweise schon übervollen Tank zu malträtieren, ist eine Praxis, für die sich keine belastbaren Argumente finden lassen. Nicht zu vergessen bei alledem: Zu den als „gesundheitsstärkend“ beworbenen Inhaltsstoffen (über 70 sind des bei einem des aktuell am offensivsten vermarktete Produkts) gesellen sich oft eine Vielzahl nur halblaut im Kleingedruckten aufgeführten „Kollateralsubstanzen“, deren Unbedenklichkeit bei Dauereinnahme nicht gesichert ist.
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Regeln? Fehlanzeige: Anders als Medikamente kommen Nahrungsergänzungsmittel ohne strenge Kontrollen auf den Markt, was dazu führt, dass fragwürdige Zutaten und Überdosierungen oft unerkannt bleiben.
Quellen:
Loftfield et al. Multivitamin Use and Mortality Risk in 3 Prospective US Cohorts. JAMA Netw Open, 2024. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2024.18729
Matthews C, Liao L, Sinha R, Ward M. NIH-AARP Diet and Health Study. Division of Cancer Epidemiology & Genetics at the National Cancer Institute.
Prostate, Lung, Colorectal and Ovarian (PLCO) Cancer Screening Trial. Nat. Inst. of Health – Nat. Cancer Inst.
Nat. Inst. of Health. Nat. Cancer Inst. and Nat. Inst. of Environmental Health Sciences.
Heads of Food Safety Agency (HoA). First report of the HoA Working Group „Food Supplements“
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