Psychische Erkrankungen bei Kindern nehmen immer weiter zu. Als Grund werden oft aktuelle Krisen genannt – doch ich habe eine andere Theorie: Unser Lebensstil zerstört deren Resilienz.
Ein trauriges Phänomen, das sowohl in den Medien beschrieben wird, als auch in meinem eigenen Umfeld (beruflich wie in den Freundeskreisen meiner Kinder) um sich greift, sind psychische Erkrankungen bei Kindern.
Das Thema geht mir aus verschiedenen Gründen nahe: Einerseits sehe ich immer mehr junge, aber teils wirklich sehr (subjektiv) hoffnungslose oder ängstliche Patienten in der Praxis, andererseits habe ich ja selbst drei Kinder, bei denen ich mir natürlich auch wünsche, sie gesund aufwachsen zu sehen. Aber das ist offensichtlich gerade in Bezug auf die Psyche keine Selbstverständlichkeit mehr – ja, das schlechte Gewissen der Selbstständigen und Mutter macht es nicht gerade einfacher.
Was mir aber immer wieder auffällt ist, dass es bei vielen dieser Artikel zu der Diskussion kommt, was denn heute Schlimmes dazugekommen sei (Umweltkatastrophen, etc.), während andere dagegenhalten, dass es doch früher mit Krieg, etc. mindestens genauso schlimm gewesen sei.
Ich habe da eine andere, zugegebenermaßen absolut nicht evidenzbasierte, Theorie, was zu den Problemen beitragen könnte: Aus der Medizin kennen wir in vielen Systemen, dass Gesundheit und Krankheit letztlich durch ein dynamisches Zusammenspiel von Faktoren entstehen. Es gibt zum Beispiel schlimmere Krankheitsverläufe bei besonders virulenten Erregern („stärkerer Angreifer“), aber auch bei einer Schwächung des Immunsystems („schwächere Verteidigung“). Deswegen frage ich mich in Bezug auf die aktuellen psychischen Probleme: Suchen wir wirklich nur nach dem „stärkeren Angreifer“ – oder geht es eher um eine geschwächte psychische Immunkompetenz – oder im Psychologie-Jargon: Resilienz? Und wenn ja, wo kommt sie her?
Meine Vermutung ist, dass unser moderner Lebensstil quasi einige zentrale Resilienzfaktoren so weit schwächt, dass es dann für die aktuellen Belastungen nicht mehr reicht. Ich möchte mich hier auf drei häufig erwähnte Resilienzfaktoren beziehen: Die feste Bezugsperson, gute Kommunikations- und Sprachskills und die Empfindung von Selbstwirksamkeit.
Fangen wir mit der festen Bezugsperson an. Frauen sollen möglichst schnell nach der Geburt wieder (am liebsten Vollzeit) arbeiten. Wirtschaftlich verständlich, ob das für die Familien immer so passt, halte ich aber für fraglich. Teilzeit können sich auch nicht alle leisten. Aber durch die externe Betreuung von bis zu 45 h pro Woche ist es gerade für kleinere Kinder oft schwierig, weil die Bezugspersonen wechseln (und eine Erzieherin der Bindungspartner für mindestens fünf Kinder sein soll). Wenn die Eltern ihre Kinder dann spätnachmittags abholen, muss noch der Haushalt erledigt werden – und dann sind gerade die Kleinen auch schon fast wieder im Bett.
Einfach mal extrem grob gerechnet: Viele Kleinkinder brauchen pro Tag ca. 12 h Schlaf. 7 Uhr aufstehen, zur Kita von 7:30–16:30 Uhr, wieder Schlafen um 19 Uhr. Das macht unter der Woche ca. 3 h pro Tag (also 15 h pro Woche), wo die Kinder WACH mit den Eltern zusammen sind. Plus die 2 x 12 h am Wochenende. Ich komme da auf 45 h Betreuung und ca. 39 Wach-Stunden mit den Eltern und die müssen dabei, wie gesagt, noch Haushalt und Kochen erledigen und sich vielleicht auch noch um ein zweites Kind kümmern. Das ist schon nicht viel Zeit, um eine feste Beziehung aufzubauen. Und die Erzieherinnen können das beim aktuellen Betreuungsschlüssel auch nicht leisten.
Bevor jetzt der Aufschrei kommt, ich würde hier „Heimchen am Herd“ propagieren (Nein, das tue ich absolut nicht!): Ich finde da Teilzeitmodelle wirklich den besten Weg. Man ist nicht ganz aus dem Job raus, aber die Kinder profitieren auch vom Umgang mit anderen und es ist genug „Beziehungszeit“ vorhanden.
Diese Teilzeitmodelle werden aber immer weniger – während auch gleichzeitig die Erzieherinnen fehlen, die sich sonst zumindest für die ersten 3–4 Jahre als Beziehungspartner für die Kinder anbieten würden. Denn das ist auch ein absoluter Knochenjob inzwischen bei den aktuellen Betreuungsschlüsseln. (Und ja, das geht in der Schule weiter). Aufgrund des Vollzeitjobs fehlen gleichzeitig oft die Ehrenamtler, die sich nachmittags im Sportverein um die Kinder bemühen und auch da kommt es oft zu Wechseln. Wieder keine langjährige, feste Bezugsperson. Ich kann mir schon vorstellen, dass das nicht ohne Wirkung auf die Kinder bleibt.
Resilienzfaktor 2: Gute Sozial- und Sprachskills. Nicht nur bei PISA zeigt sich, dass die Lese- und Schreibfähigkeiten immer weiter abnehmen. Auch die Sprachfähigkeiten bei Kindern werden immer häufiger als unzureichend beschrieben. Sicherlich hat da auch der moderne Lebensstil mit zu tun: Wenn die Erwachsenen nicht das Kind, sondern das Smartphone ansehen oder das Kind eher die Sprache vom Tablet oder Fernsehen „vorgesetzt“ bekommt, anstatt dass es wirklich „interagieren“ (und damit lernen) kann, ist es nicht verwunderlich, dass das schwieriger wird. Aber je schwieriger die Sprache, desto schwieriger wird auch die Interaktion mit dem Bezugspartner, vor allem bei eh schon knapper Zeit (siehe oben).
Ich habe drei Kinder im Abstand von insgesamt 5,5 Jahren. Ich bin immer wieder erschrocken, wenn ich sehe, wie viel schlechter viele Klassenkameraden meines jüngsten Kindes lesen im Vergleich zur Klasse meines ältesten Kindes. Mein Mann und ich haben mit unserem jüngsten Kind auch NOCH mehr gelesen als mit seinen älteren Geschwistern, um das irgendwie auszugleichen. Aber dank des Lehrermangels ist „Unterricht“ halt auch oft mehr „Beaufsichtigung“ als wirklicher „Unterricht“. Woher sollen die Kinder dann die Sprachfähigkeiten bekommen, die gerade heutzutage ja so wichtig sind? (Und ich lasse jetzt bewusst das Thema aus, wie Lehrer dann auch noch die Sozialfähigkeiten der Kinder managen sollen, denn sonst wird dieser Artikel noch länger).
Last, but not least: Selbstwirksamkeit. Ganz schwieriges Thema, aber ich versuch es trotzdem einigermaßen kurz und prägnant zu formulieren. Es wird gefühlt immer schwieriger, Kinder einfach miteinander spielen und etwas „schaffen“ zu lassen. Beispiel meiner Söhne: Entweder musste ich sie zum Fußball bringen (obwohl der Weg echt kurz ist), damit sie sich vor Ort selbst die Schleife binden mussten. Oder sie mussten selbst hinlaufen, aber dann wusste ich genau, dass eine andere Mutter ihnen die Schleife in die Fußballschuhe machte, „damit das schneller geht“. Nein – ein Kind muss diese Fähigkeiten lernen. Natürlich sind sie am Anfang viel langsamer als ich. Aber wenn sie merken, dass wir als Eltern immer die Dinge für sie erledigen („weil sie das ja (noch) nicht können“) – woher soll denn das Selbstvertrauen kommen, das normalerweise aus dem Überwinden solcher kleiner Hindernisse wächst? Oft genug verabreden sich die Kinder bis weit in die Grundschule nicht selbst, sondern die Mütter organisieren die Treffen! Woher sollen denn die sozialen Fähigkeiten kommen und das Vertrauen „das schaffe ich schon“?
Klar ist das mein subjektives Empfinden und keine wissenschaftliche Studie. Es kann alles Zufall sein – aber ehrlich gesagt glaube ich das insofern nicht mehr wirklich, weil ich das auch bei unseren Patienten erlebe: Viele Eltern, die ihre Kinder dann als „antriebsarm/depressiv“ in unsere Sprechstunde bringen, haben mir schon im Vorfeld oft erzählt, was sie alles für ihre Kinder tun (bzw. subjektiv „tun müssen“) und sind oft verblüfft, wenn man sie fragt, warum die Kinder das nicht allein machen. Und oft hilft es, wenn man die Kinder dazu anhält, ihr Leben wieder selbst „in die Hand“ zu nehmen (nein, nicht bei einer ausgewachsenen Depression, aber wenn es darum geht, dass die Stimmung so langsam „abrutscht“).
Ich weiß nicht, ob andere dieses Konzept: „Unser aktueller gesellschaftlicher Lebensstil schwächt die Resilienz unserer Kinder“ überzeugt – und sicher spielen auch noch andere Phänomene eine Rolle. Interessant ist auch der Zusammenhang zwischen hohem Zuckerkonsum und Depression. Aber ich glaube schon, dass es zumindest den Versuch wert wäre, dies mal in Studien zu überprüfen, damit wir endlich tätig werden können – sowohl kurativ jetzt als auch präventiv für folgende Generationen.
Denn Kinder sind unsere Zukunft – und so kann es nicht weitergehen!
Bildquelle: Luke Pennystone, Unsplash