Distanz ist wichtig, um einmal zur Ruhe zu kommen – nicht nur für Patienten und Kranke, auch für uns Ärzte. Wie ich mich zum Abschalten gezwungen habe und wie es mir geholfen hat, die eigene Batterie aufzuladen.
„Nähe ist keine Frage der Entfernung“ – dieses Zitat lese ich immer mal wieder. Stimmt das wirklich? Wenn ich Rehaanträge stelle, betone ich manchmal die Wichtigkeit der „räumlichen Distanzierung“ bei Konfliktsituationen oder höherer psychischer Belastung. Interessant war, jetzt mal „am eigenen Leib“ zu erfahren, WIE wichtig manchmal räumliche Distanz sein kann. Wir waren jetzt für drei Wochen im Urlaub und da auch physisch weg – Camping in Frankreich. Pallitelefon und den ganzen Alltag hat mein Kollege übernommen, der ohnehin auch über eine eigene Praxis (oder Gemeinschaftspraxis mit Zweigstelle) nachdenkt. Also quasi eine Win-Win-Situation. Ich hab nur alle drei bis vier Tage mal geschaut, ob mir geschrieben wurde.
Mit ein paar hundert Kilometern Abstand, anderem Umfeld und einfach mal Nicht-Praxis konnte ich wirklich ganz anders entspannen. Ich weiß noch, dass ich mich früher oft gefragt habe, warum mein ehemaliger Chef (und auch diverse selbständige Handwerker, die ich kenne), gefühlt wirklich in jeden Ferien wirklich weit weg gefahren/geflogen ist und ob das nicht auch anders geht (auch aus ökologischen Gründen). Aber ich muss feststellen: Es ist wirklich viel schwieriger abzuschalten, wenn man die gewohnten Dinge um sich sieht.
Was also tun? Wir als Hausärzte sind ja sowieso immer sehr „nah am Patienten“ – für mich auch räumlich, aber definitiv psychologisch. Nach über 12 Jahren hausärztlicher Tätigkeit gehe ich hier nirgendwo mehr hin, ohne Patienten zu sehen. In der Nachbarschaft, beim Einkaufen, bei Behördengängen, beim Sport, beim Spazierengehen. Das empfinde ich nicht als belastend und die Leute grüßen auch nur kurz, ohne mich direkt auf Krankheiten anzusprechen. Aber ja, man schaltet andererseits nicht so richtig ab.
Letztlich muss ich zwischendurch auch mal aus dem Arzt-und-Selbständig-Modus raus (auch wenn „selbständig“ ja oft als Zusammensetzung aus „selbst“ und „ständig“ gesehen wird). Mein aktueller Versuch sieht so aus, dass ich sehr bewusst das Handy zwar laut stelle (damit ich es höre, wenn ein Pallianruf kommt), aber es gleichzeitig außer Sichtweite lege, damit ich auch nicht visuell die ganze Zeit getriggert werde und mir sehr bewusst Zeit mit den Kindern nehme oder mit meinem Mann einen Spaziergang mache (Stichwort räumliche Distanz).
Das scheint zu reichen, dass die Praxis mich nicht so auffrisst wie ich das kurz vor dem Urlaub empfunden habe – aber aktuell ist auch nicht Infektsaison. Und es ist ein sehr bewusster, quasi aktiver Prozess, an andere Dinge zu denken. Man kann ja nicht bewusst NICHT an die Praxis denken, sondern ich muss (zumindest zur Zeit) mich sehr aktiv auf etwas anderes fokussieren (z. B. ein neues Rezept kochen, den ziemlich vernachlässigten Garten mal wieder auf Vordermann bringen, etc.). Aber gleichzeitig soll das ja nicht noch ein zusätzlicher Stressor sein (also im Sinne von „oh nein, wie der Garten gerade aussieht, was sollen die Nachbarn denken“), sondern entspannen. Das ist definitiv etwas komplizierter als gedacht und ich hoffe, dass es auf Dauer gelingt.
Was wirklich hilft: Wir haben uns als Familie für einen Hund entschieden. Mein Mann ist ja glücklicherweise auch in Teilzeit viel zu Hause und es kann immer jemand für den Hund da sein. Das zwingt mich auch (im positiven Sinne) zum Spaziergang und da ich selbst mit Hunden aufgewachsen bin, finde ich auch, dass die absolut bedingungslose Zuneigung, die ein Hund gibt, einfach gut tut. Kein „ich bräuchte da noch eine Unterschrift“, kein „aber Frau Doktor, jetzt machen Sie doch endlich meine Krankheit weg“, einfach jemand, der sich freut, wenn man kommt. Und der durch diese Aufmerksamkeit quasi eine emotionale Distanz zur Praxis schafft durch die Nähe, die er gibt.
Bitte nicht falsch interpretieren: Auch meine Familie freut sich, aber natürlich sind die Kinder inzwischen älter und unabhängiger – da kommt niemand mehr wie im Kindergartenalter in die Arme geflogen. Sondern im Gegenteil ist es auch da wichtig, dass man in der Pubertät Kontakt hält und eher aktives Zuhören betreibt, als dass man selbst einfach mal die Zuneigung nur genießen kann. Und mein Mann hat ebenfalls mehr als genug um die Ohren mit Job und Haushalt, so dass wir beide abends oft einfach nur noch platt sind. Wir schauen auch, dass wir Zeit für uns haben – aber die Müdigkeit und Erschöpfung merkt man uns beiden an.
Aber auch in der „Nahdistanz“ frage ich mich manchmal, ob dieses dauernde „jemandem nah sein und ihn berühren“ etwas mit uns macht. Als ich für ein Jahr in den USA war, fiel mir damals auf, dass sich in unserer Region die Leute kaum berührt haben. Allenfalls kurze „Hugs“ (Mini-Umarmungen nur mit dem Oberkörper), aber häufig auch eher nur ein Zunicken und gar kein wirklicher physischer Kontakt. Das fühlte sich sehr komisch an – mir fehlte definitiv etwas, aber als ich zurück kam, fand ich Körperkontakt auch erst einmal ungewohnt (und an der Grenze zu unangenehm, obwohl es ja nur ein Jahr war und ich es vorher 15 Jahre anders erlebt hatte).
Jahre später fand ich einen sehr interessanten Artikel, der mich auch nochmal zum Nachdenken brachte. Ich arbeitete damals viel in der diabetischen Fußambulanz und eine unserer Pflegekräfte hatte große Probleme, da ein Patient ihre Berührungen im Rahmen der Behandlung fehl zu deuten schien. Wir haben damals viel darüber gesprochen und mit einer kombinierten Grenzsetzung von pflegerischer und ärztlicher Seite ging es dann besser mit diesem Patienten, aber seitdem schwebt dieses Thema immer bei mir im Hinterkopf.
Jetzt als Ärztin berühre ich auch den ganzen Tag lang Menschen im Rahmen der Untersuchungen – auch wenn ich zugeben muss, dass ich den Händedruck aus hygienischen Gründen eher weglasse, gerade in der Infektsaison. Und am Ende des Tages hab ich auch das Gefühl, dass ich dann eine Pause von Berührungen (und vor allem Ansprüchen) brauche, weil man faktisch den ganzen Tag „gibt“ und anderen Leuten hilft, ihren Akku aufzuladen. Abends sieht man seine Familie und auch meine Kinder haben natürlich das Bedürfnis nach Nähe und emotionaler Anteilnahme. Das gebe ich auch gern, aber ich habe schon gemerkt, dass ich aufpassen muss, dass noch genug Kraft für die Familie da sein muss. Es darf nicht alles in der Praxis bleiben.
Momentan fühlt es sich an wie ein steter Balance-Akt von Nähe und Distanz. Genug Nähe für die Patienten, dass man sie auch emotional auffangen kann, was ja in der heutigen Zeit auch ein zunehmender Anlass für Konsultationen ist, gerade bei jüngeren Patienten, aber eben auch so viel Distanz, dass man selbst dabei nicht kaputt geht. Und auch genug Zeit/Kraft/Nähe für die Personen hat, die einem selbst wichtig sind. Deswegen ein anderes Zitat, das für mich zumindest aktuell besser passt, denn das „Zu-nah-Sein“ kommt für mich von allein: „Wir müssen begreifen, dass Engagement und Distanz kein Widerspruch sind, je engagierter wir sind, desto mehr Distanz müssen wir wahren“ – Deepak Chopra.
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