Ein Patient entwickelt plötzlich psychotische Symptome. Doch die Neuroleptika helfen nicht weiter. Erst nach Jahren stellen die Ärzte schließlich eine seltene Diagnose.
Der Patient ist Psychiater in einer deutschen Kleinstadt. Er lebt ein glückliches Leben, als er plötzlich eine schwere Depression entwickelt, so heißt es in einem Bericht in Science. Schlaflosigkeit und Grübeleien werden zum Alltag. Aus dem Bett kommt er nicht mehr, seinen Job muss er aufgeben. Täglich weint er und hat Angst, zu sterben. Er erhält über Jahre verschiedene Diagnosen, auch Schizophrenie. Doch trotz Therapie wird die Symptomatik nicht besser.
Die Tante des Patienten weist ihn schließlich auf einen Zeitungsartikel hin, der die Arbeitsgruppe von Prof. Ludger Tebartz van Elst vorstellt. Diese forschen an Autoimmunerkrankungen, die eine Psychose verursachen können. Der Patient besucht die Arbeitsgruppe und wird untersucht. Er erhält endlich die erlösende Nachricht: Bei ihm können bestimmte Autoantikörper (Anti-leucine-rich glioma-inactivated 1, kurz Anti-LGI1) nachgewiesen werden; die Diagnose lautet: Autoimmunenzephalitis.
Das Krankheitsbild der Autoimmunenzephalitis ist variabel und umfasst eine Bandbreite an Symptomen. Sowohl neurologische Symptome wie Bewegungsstörungen, Sprach- und Gedächtnisprobleme, Krampfanfälle oder Hirnnervenausfälle, als auch schwere psychiatrische Symptome wie Halluzinationen und Psychosen können auftreten – und das von jetzt auf gleich. Doch die Diagnosestellung ist eine Herausforderung, denn bei den Patienten mit psychotischer Symptomatik wird oft erst eine Schizophrenie diagnostiziert.
Bei dem Patienten wurde als Auslöser ein Antikörper gegen LGI1 identifiziert, das normalerweise die Bindung zwischen AMPA- und VGKC-Rezeptoren mit anderen adhäsionsregulierenden Proteinen in neuronalen Synapsen gewährleistet. Doch die Autoimmunenzephalitis umfasst verschiedene Antikörper, die das Krankheitsbild auslösen können, und es werden immer wieder neue entdeckt. Am bekanntesten ist der anti-N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor-Autoantikörper, kurz NMDAR-Antikörper. Dieser wird vor allem bei Kindern und jungen Erwachsenen als Auslöser der Enzephalitis gefunden. Wie viele Autoantikörper, die eine Autoimmunenzephalitis auslösen, noch existieren, ist noch unklar.
Die NMDAR-Enzephalitis könnte womöglich eine höhere Fallzahl als die Virus-bedingte Enzephalitis bei Kindern einnehmen, heißt es von der Berliner Charité. Genaue Zahlen fehlen jedoch noch. Die deutsche Hirnstiftung gibt eine Inzidenz von 5 bis 10 Fällen pro 1 Millionen Menschen jährlich an. In den letzten 15 Jahren wurden bereits 18 verschiedene Autoimmunenzephalitiden identifziert.
Pathophysiologie der Anti-LGI1- und Anti-NMDAR-Autoimmunenzephalitis. Credit: N. Burgess, Science
Dr. Josep Damlau, der 2007 seine Entdeckungen zur Autoimmunenzephalitis veröffentlichte, erfuhr von diversen Fallberichten. Einige Fälle aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die zur Erkrankung passen, beschreiben Gewaltausbrüche und Halluzinationen, die teilweise in komatösen Zuständen mündeten – auch bei Kindern. Therapieoptionen waren aufgrund der unklaren Diagnose mager. Die Behandlung mit Neuroleptika führte in der Vergangenheit sogar zur Verschlimmerung der Symptomatik. Heutzutage ist klar: die Autoimmunenzephalitis kann, wie viele andere Autoimmunerkrankungen, durch hochdosierte Steroidgabe, Immunglobuline, Plasmapherese oder auch Biologika wie Rituximab behandelt werden. Für den Patienten ist die Diagnose eine Erleichterung, denn die Prognose ist aufgrund der Therapie sehr günstig.
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