Eine Patientin verletzt sich selbst nach nur kleinsten Konflikten. Da kommt das Konzept des inneren Kindes gerade recht. Denn „es gibt doch eine Ursache, warum ich das mache!“ Warum ich das für gefährlich halte.
Haben Sie schon mal ausprobiert, wie viele Ergebnisse Sie bei der Suche im Internet nach „innere Kind Arbeit“ erhalten? Es sind unendlich viele Angebote aus diversen Richtungen – die einen seriös, die anderen eher nicht. Mit dem Aufkommen der Schematherapie gewann der Begriff „inneres Kind“ immer mehr an Popularität.
Es ist für viele Menschen mit psychischen Störungen oder auch solchen mit psychischen Blockaden ohne Störungswert ein griffiges Konzept. Eine Hypothese, mit der die meisten Laien auch etwas anfangen können. Auch eine hilfreiche Metapher: Ein inneres Kind, was in früheren Jahren gewisse Schritte nicht bewältigt hat oder im schlimmsten Fall, hochgradig belastende Ereignisse durchgelebt hat. Das ist alles schön und gut. Nur, ich stelle immer wieder fest, dass dieser Begriff und die gesamte Konzeption inflationär und irreführend genutzt und eingesetzt wird.
Dies zeigt sich in verschiedenen Konstellationen: zum einen, psychisch gesunde Menschen – also solche, die keine störungswertigen Symptome berichten und auch keine psychosoziale, aus sozialmedizinischer Sicht, Funktions- oder Teilhabebeeinträchtigung zeigen, rufen beim Psychotherapeuten an und wünschen sich, „die Vergangenheit zu bearbeiten“ oder „mit dem inneren Kind Frieden finden“ oder „die eigene Kindheit zu verarbeiten“. Hier liegt ausschließlich ein subjektiv für emotional relevant gehaltenes Ereignis oder Ereignisse vor – ohne Symptome. Einfach, weil die Gesellschaft und die unzählige Ratgeberliteratur einem suggeriert: „Jeder hat etwas in der Vergangenheit, was verarbeitet werden muss!“ und „Innere-Kind-Arbeit schadet nicht!“
Zum anderen eine Gruppe von Menschen mit diagnostizierten psychischen Erkrankungen, die viele unterschiedliche Behandlungsformen durchlebt haben – und zwar in diversen Settings (vollstationär, teilstationär und ambulant). Diese suchen immer noch nach den gut getarnt versteckten Geheimnissen des „inneren Kindes“ und sind davon überzeugt, dass es ein immer noch unentdecktes „Trauma“ gibt, was das innere Kind belastet und was durch noch mehr Therapie aufgelöst werden kann. Dabei wird auch der Begriff Trauma inflationär und falsch eingesetzt, nach der allgemeinen Überzeugung, dass etwas belastend war. Etwas negatives, traumatisches eben! Aber traumatisch ist nicht traumatisierend.
Warum ist das Ganze ein Problem? Es ist die generelle Haltung, dass man mit psychologischen Erklärungsmodellen wie auch immer geartete, alltägliche und normalpsychologische Zustände verändern kann – und auch soll. Für die psychotherapeutische Arbeit ist eine Fixierung auf dem „inneren Kind“ auch eine Art Vermeidung: Denn, solange ich mit archäologischer Akribie nach dem Verborgenen und Unbewussten suche – und es nicht finde – kann ich an meiner jetzigen Situation nichts ändern.
Wie z. B. eine Patientin, die sich immer selbst verletzt nach geringsten Konflikten im sozialen Nahraum und sich vehement weigert, Emotionsregulationsstrategien einzusetzen – mit der Begründung: „Ja, es gibt doch eine Ursache, warum ich das mache! Die soll erst entdeckt werden. Was sollen mir diese Skills nutzen?“
Leider sehe ich im praktischen Alltag sehr unterschiedliche Konsequenzen dieser Haltung. Manchmal ist dies nur ein Missverständnis, wie diese Aussage eines Patienten zeigt: „Ach so, ich dachte, nur so funktioniert Psychotherapie. Man sucht nach dem Ursprung, also inneres Kind und so. Und dann, wenn man das gefunden hat, ist wieder alles gut.“
Psychotherapeutische Indikation sollte auf der gegenwärtig zu messenden Konstellation aus unterschiedlich gewichteten Faktoren basieren. Relevant ist die aktuelle – idealiter objektivierbare – Funktionsbeeinträchtigung. Nicht das, was in der Vergangenheit war oder was hinter einem zurück liegt – ohne Symptom- und Belastungsrelevanz im Hier und Jetzt.
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