Patienten mit mentalen Erkrankungen tragen eine schwere Last. Nach wie vor wird ihr Leiden zu selten diagnostiziert und lege artis therapiert. Auch unterscheiden sich Behandlungsziele von Ärzten und Patienten. Medizinern gelingt es nicht immer, einen Freitod zu verhindern.
Mentale Erkrankungen von Kindesbeinen an: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bewertet in einer aktuellen Untersuchung Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren als besondere Risikogruppe. Neben frühen Schwangerschaften, Übergewicht oder Alkoholmissbrauch würden Depressionen und Ängste zum immer größeren Problem, berichten Forscher. Die Folgen: Suizide gelten laut WHO neben Verkehrsunfällen und AIDS als dritthäufigste Todesursache bei Heranwachsenden. Erste Symptome zeigen sich bereits mit 14 Jahren. Psychiater sollten in diesem Alter besonders aufmerksam sein, heißt es weiter. Denn viele Erkrankungen lassen sich heute mit gutem Erfolg therapieren – rein theoretisch.
Laut „Faktencheck Gesundheit“ der Bertelsmann Stiftung bleiben mehr oder minder große Versorgungslücken – vor allem bei Depressionen. Grundlage der Studie waren Daten von sechs Millionen erwachsenen Versicherten. Das Resultat: Drei von vier Patienten werden in Deutschland nicht adäquat mit Psychotherapien plus Antidepressiva behandelt. Und 18 Prozent aller schwer Erkrankten erhielten gar keine Therapie – mit fatalen Folgen: Durchschnittlich nimmt sich jeder Siebte das Leben. Geographisch zeigen sich bei der Versorgung deutliche Unterschiede: Wer in Nordrhein-Westfalen (30 Prozent) oder Hessen (29 Prozent) lebt, erhält häufiger eine angemessene Behandlung als im Saarland oder in Thüringen (jeweils 20 Prozent). Versorgungsforscher erklären dies mit Unterschieden bei der Zahl an Fachärzten beziehungsweise Psychotherapeuten. Sie fordern, Therapieplätze bedarfsgerechter zu verteilen und neue Versorgungsmodelle umzusetzen. Das beginnt schon bei der Frage, was erreicht werden soll.
Oft haben Heilberufler und Erkrankte nämlich verschiedene Ziele, wie ein Pilotprojekt des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ergab. Versorgungsforscher befragten an einer Depression erkrankte Patienten sowie behandelnde Ärzte nach ihren Prioritäten. Für Mediziner standen Remission und Vermeidung von Rückfällen ganz oben auf der Wunschliste, gefolgt von Effekten auf die soziale Funktionsfähigkeit. Patienten hofften eher auf ein möglichst schnelles Ansprechen ihrer Medikation respektive auf rasche Besserung ihres Gesundheitszustands. „Ich würde lieber den Rest meines Lebens mit einer milden Depression leben als in einer akuten mittelschweren bis schweren Episode keine Hoffnung haben, dass es ein Medikament gibt, das mir in der akuten Phase Besserung zu bringen vermag“, gab ein Betroffener zu Protokoll. Dieser als Analytic Hierarchy Process (AHP) bezeichnete Dialog von Arzt und Patient kann laut IQWiG einen Beitrag leisten, um therapeutische Endpunkte zu gewichten. Nicht immer haben Mediziner jedoch Erfolg mit ihren Bemühungen. Und so verwundert es kaum, dass mentale Leiden die Lebenserwartung stärker verringern als bislang angekommen, berichten Edward Chesney, Guy M. Goodwin und Seena Fazel aus Oxford, UK. Hier sind Suizide, Folgeerkrankungen oder die allgemeine Vernachlässigung zu nennen. Patienten mit bipolaren Störungen verlieren durchschnittlich neun bis 20 Jahre ihres Lebens, bei Schizophrenie sind es zehn bis 20 Jahre, und bei Depressionen sieben bis elf Jahre. Starke Raucher sterben rein statistisch gesehen acht bis zehn Jahre früher als Nichtraucher. Fazels Vergleich ist nicht zufällig gewählt – ähnlich viele Menschen rauchen oder entwickeln im Laufe ihres Lebens schwere seelische Befindlichkeitsstörungen.
Bleibt noch der schlimmste Fall: Plötzlich sehen sich Notärzte mit einem suizidalen Patienten konfrontiert. Besonders schwierig ist die Lage, sollte eine unheilbare Erkrankung hinter der Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, stecken. Mit dieser Problematik mussten sich jetzt Richter befassen. So hatte ein 84-jähriger Krebspatient versucht, sich zusammen mit seiner 83-jährigen, bettlägerigen Partnerin das Leben zu nehmen. Beim Eintreffen des Notarztes wäre dem Mann noch zu helfen gewesen, seine Frau war bereits verstorben. Allerdings verhinderte der Sohn, selbst als Allgemeinmediziner tätig, entsprechende Maßnahmen. Er betonte den freien Willen dieser Entscheidung; auch habe sein Vater im Vollbesitz geistiger Kräfte gehandelt. Angesichts der Sachlage lehnte es das Landgerichts Deggendorf ab, ein Hauptsacheverfahren zu eröffnen. Nach bisheriger Rechtsprechung wäre der Notarzt zum Handeln verpflichtet gewesen, allein schon wegen der Bewusstlosigkeit seines Patienten. Auch bei einem Suizid habe „das Selbstbestimmungsrecht des Patienten Vorrang“. Allerdings müsse die Entscheidung „sicher erkennbar“ sein, getroffen in „freier Verantwortung“ und mit „vollem Bewusstsein“. Trotz dieser juristischen Entscheidung bleiben Grenzbereiche, in denen Ärzte mit ihrer Entscheidung alleine dastehen.