Freitagnachmittag in der brechend vollen Notaufnahme. Mir fällt ein stiller junger Mann in etwas verwahrlostem Zustand auf. Er starrt in die Ecke – und irgendetwas gefällt mir hier nicht.
Fünf Telefone klingeln gleichzeitig, ein Patient schreit, Angehörige diskutieren, ein Lachen aus einem Untersuchungszimmer – ein typischer Freitagnachmittag in der brechend vollen Notaufnahme. Ich scanne die verschiedenen Räume, mache mir einen Überblick und werfe einen Blick ins Wartezimmer. Neben Angehörigen und geplanten Patienten sitzt dort still ein junger Mann in etwas verwahrlostem Zustand. Er starrt in die Ecke und irgendetwas gefällt mir hier nicht.
Kurz darauf im Untersuchungszimmer. Der Patient hat eine Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser hinter sich – entweder direkt abgewiesen („Sie sind ja nicht krank“) oder nach stundenlangen Wartezeiten frustriert gegangen. Er lebt allein, hat eine fraglich behandelte Hepatitis C und ist Polytoxikomane.
„Ich hatte schon so Abszesse überall, von den Spritzen.“
Aktuell klagt er über Übelkeit und Oberbauchschmerzen. Bei uns hat er 38,9°C Fieber, Herzfrequenz bei 120/min, Blutdruck bei 100/70. Ja, von wegen „nicht krank“. In der Leiste taste ich neben multiplen alten wie neuen Einstichsstellen eine deutliche überwärmte Schwellung. Am linken Bein hat er ausgedehnte variköse Veränderungen, es sieht ein bisschen nach postthrombotischem Syndrom aus. Ansonsten finde ich keine Besonderheiten.
Unsere Chirurgie ist voll. Wir telefonieren 10 chirurgische Kliniken ab, das Spielchen geht weiter: Alle lehnen ab. „Voll“, „Kennen wir, der hat eh nix“ – auch mein Abzessverdacht in der Leiste stimmt niemanden um. Das führt zu nichts, ich nehme ihn internistisch auf. Ein Abdomen-Ultraschall machen wir noch in der Notaufnahme, hier sieht man nichts Besonderes. Röntgen-Thorax: ebenfalls unauffällig.
Kurz darauf die ersten Laborergebnisse: Leukozyten 28.000, CRP 35. D-Dimere massiv erhöht! Eine unserer Chirurginnen macht eine Inzision in der Leiste, es entleert sich eine kleinere Menge Eiter, aber deutlich weniger als erwartet. Wir machen ein CT-Abdomen. Hier sieht alles nach einer älteren Thrombose im Bereich der linken V. femoralis mit Umgehungskreislauf aus. In der Leiste fallen beidseits massiv geschwollene Lymphknoten auf, ein Abszess zeigt sich hier aber nicht (mehr). Der Mensch ist krank. Wir fangen mit Piperacillin/Tazobactam i.v. an und planen wegen der Oberbauchschmerzen eine Ösophagogastroduodenoskopie (ÖGD) für den nächsten Tag.
Samstag morgen, ich habe Dienst. Wieder in der Notaufnahme, die Schwester gibt mir das Telefon: „Labor, wegen diesem Patienten von gestern“. Ich bin gespannt: „Grampositive Haufenkokken in allen 4 Blutkulturen, Differenzierung folgt.“
OK, das erklärt einiges. Eine Blutstrominfektion. Die MRSA-Abstriche sind noch nicht zurück, er kann alles Mögliche haben. Ich gebe zusätzlich Vancomycin i.v. und ordne eine Spiegelkontrolle für Sonntag an. Zeit, sich Leiste und Gefäße nochmal genauer anzuschauen: Im Duplex-Sono der Becken-Beinstrombahn werde ich fündig: Ein großer frischer Thrombus rechts in der V. femoralis 5 cm distal des Leistenbands, der sich bis in die V. poplitea erstreckt – knapp unterhalb unseres CT-Fensters von gestern … Erstmal Antikoagulation, anschließend mache ich direkt ein Echo. Die linksventrikuläre Funktion ist gut, der PA-Druck liegt bei 48 mm Hg. Lungenembolie?
Während ich das Angio-CT-Thorax anmelde, geht ein neuer Befund in der digitalen Akte ein: Bingo! Staphylokokkus Aureus (MSSA). Das passt. Wir stellen von Vancomycin auf Flucloxacillin 6 x 2 g i.v. um, das Piperacillin/Tazobactam lassen wir erstmal drin.
Die erste Blutkultur: Staphylococcus Aureus (MSSA) – ein infektiologischer Notfall! Quelle: _docjay
Jetzt wird es höchste Zeit fürs CT-Thorax. Wieder werden wir fündig: Ausgedehnte zentrale Lungenembolie! Mein Gott, dafür geht es ihm ja fast gut ... trotzdem: Ab auf Intensiv. Wir erwarten schon das Schlimmste bei der nachfolgenden Gastro (blutendes Ulcus und damit keine Antikoagulation möglich) aber hier sieht man glücklicherweise nur eine milde Gastritis – ein Problem weniger. Und er hat noch einmal Glück: Keine Endokarditis im TEE.
Staphylokokken sind grampositive Haufenkokken und gehören zur Standort-Flora des Menschen. Eine Besiedlung hat bei Immungesunden erstmal keinen Krankheitswert. Typische Infektionen sind z. B. Haut- und Weichteilinfektionen, richtig gefährlich wird es bei der hämatogenen Aussaat. Eine MSSA-Blutstrominfektion ist ein infektiologischer Notfall und verläuft unbehandelt wie eine metastasierende Krebserkrankung im Zeitraffer: Der Keim befällt Herzklappen, bildet Biofilme auf Fremdmaterial und streut von dort mit septischen Embolien in andere Organe. Die Mortalität liegt bei ca. 20 %.
Staphylococcus aureus unter dem Elektronenmikroskop. Quelle: Wikimedia commonsDer Nachweis von Staphylokokkus aureus in der Blutkultur darf daher NIE als Verunreinigung gewertet werden und muss immer therapiert werden. Wie gehe ich vor?
In der Regel gibt es irgendwo eine Quelle (Fokus) der Blutstrominfektion. Dies kann z. B. ein intravasaler infizierter Katheter, eine Weichteilinfektion, eine Knochen- bzw. Gelenkinfektionen (auch Zähne!) oder eine Spondylodiszitis sein. Der Fokus muss zwingend gefunden und saniert werden, sonst ist alle Liebesmüh umsonst. Daher gehört ein CT von Hals bis Becken zum Standardvorgehen. Hier suche ich sowohl nach dem Fokus als auch nach sekundären Streuherden. Alle invasiven Katheter müssen entfernt/gewechselt werden.
Zudem sollte schnellstmöglich eine transösophageale Echokardiographie erfolgen: Eine MSSA-Endokarditis ist in der Regel zwar Folge und nicht Quelle der Bakteriämie, führt aber zu deutlich weitreichenderen Entscheidungen wie ggf. dem (operativen) Klappenersatz. Auch die HNO- und zahnärztliche Vorstellung ist wichtig. Kann der Fokus nicht gefunden werden, wird zunehmend das PET-CT eingesetzt.
Bereits eine komplizierte Blutstrominfektion muss lange behandelt werden. Zur oralen Step-Down-Therapie ist die Datenlage noch uneinheitlich, aber wird zunehmend geprüft. Zudem bieten Angebote zur parenteralen ambulanten Therapie (APAT) eine Option auch bei notwendiger i.v.-Therapie. Lange Aufenthalte werden damit in Zukunft absehbar seltener notwendig.
Der Patient hatte erst nach einer Woche negative Blutkulturen. Der Fokus war mutmaßlich die (nach i.v. Drogenabusus) superinfizierte Thrombose der Leiste, diese konnte operativ nicht saniert werden. Daher lag eine komplizierte Bakteriämie vor. Wir haben für 4 Wochen ab der 1. negativen Blutkultur mit Flucloxacillin i.v. therapiert, der Patient gehörte am Ende fast zum Stationsteam. Und es ging gut aus – nach 5 Wochen ging es mit fortgesetzter therapeutischer Antikoagulation und empfohlener Thrombophilie-Abklärung geheilt nach Hause.
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