Wer nachts nicht schlafen kann, tendiert zu irrationalen Handlungen – manche sagen sogar zu Mord. Was ist dran an der Mind-after-Midnight-Theorie?
Unsere innere Uhr – der zirkadiane Rhythmus – steuert unseren Tagesablauf. Sie sagt, wann wir müde werden und schlafen gehen sollten. Doch manche werden gerade abends besonders produktiv und machen die Nacht zum Tag, andere hingegen haben aufgrund von Nachtschichten keine andere Wahl als die innere Uhr zu ignorieren. Und das kann krank machen: Nachteulen haben ein erhöhtes Risiko für Erkrankungen wie Diabetes oder Herzerkrankungen und sogar dafür, einen Mord zu begehen – bitte was?
Dem zugrunde liegt die Mind-after-Midnight-Hypothese, die besagt, dass nächtliches Wachsein unser rationales Handeln beeinflusst. Das hat wohl auch jeder von uns einmal am eigenen Leibe erlebt: Wir sind müde und dadurch reizbarer – negative Emotionen werden bei Schlafmangel nämlich intensiver wahrgenommen als positive. Die zirkadianen Prozesse, die uns schläfrig machen, können bei nächtlichem Wachsein zu kognitiven Defiziten führen, die dann wiederum rationales Verhalten einschränken können. Nicht nur reagieren wir deshalb wohl häufiger mal etwas anders als mit einer guten Mütze voll Schlaf, sondern auch die Risikobereitschaft steigt an. Doch wie weit führt diese Risikobereitschaft – werden wir durch nächtliches Umhertreiben zum Mörder?
Laut einer aktuellen Studie ist das gar nicht so weit hergeholt. Die Autoren stellten die Hypothese auf, dass nächtliches Wachsein ein möglicher Risikofaktor für Gewalttaten ist. Genauer gesagt: Wer nicht gut und regelmäßig schläft, läuft Gefahr, zum Mörder zu werden. Um diese Hypothese zu untersuchen, analysierten die Wissenschaftler Daten von Suiziden und Morden in den Vereinigten Staaten. Sie kombinierten diese mit Schlaf-Wach-Zeiten von 10.000 US-Amerikanern aus einer repräsentativen Studie, um mehr über den Risikofaktor „Nachts wach“ herauszufinden.
Während die absoluten Zahlen zwar gegen einen umnachteten Mörder sprechen, deuten die relativen Zahlen auf einen ganz anderen Trend hin.
Wurde nämlich für den Faktor Zeit korrigiert und berücksichtigt, zu welchem Zeitpunkt wie viele Personen erwartbar wach sind, war die Wahrscheinlichkeit, einen Suizid zu begehen, zwischen 2:00 und 3:00 nachts fünffach höher als in den restlichen Stunden des Tages. Das Risiko, einen Mord zu begehen, war sogar achtmal so hoch. Insgesamt fanden 19 % aller Suizide und sogar 36 % der Morde nachts statt. Und das, obwohl zwischen Mitternacht und dem frühen Morgen (6 Uhr) wohl weniger als 10 % der Bevölkerung wach sind.
Aber nicht alle Nachteulen sind potenzielle Mörder oder laufen Gefahr, Suizid zu begehen. Die Wissenschaftler haben mehrere Faktoren herausgearbeitet, die das Risiko zusätzlich beeinflussen. Dabei machten sie eine überraschende Entdeckung bei den unter 25-Jährigen. Das Risiko für Suizid in der Nacht war dreimal so hoch wie bei anderen Altersgruppen. Die Wissenschaftler mutmaßen, dass dies am noch nicht ausgereiften präfrontalen Cortex (PC) liegen könnte. Dieser entwickelt sich nämlich noch bis in die Mittzwanziger und kann bei Schlafmangel überstrapaziert werden.
Der gleiche Trend konnte bei Mordfällen in dieser Altersgruppe nicht beobachtet werden. Dafür aber ein anderer: Über 50 % der Mordopfer waren junge Erwachsene. Auch dies führen die Wissenschaftler auf eine möglicherweise noch nicht ausreichende Reife des PC zurück. Sie vermuten, dass junge Erwachsene sich dadurch eher in gefährliche Situationen bringen und risikobereiter sind.
Als weitere Risikofaktoren nannten die Autoren Alkoholkonsum, Schlafstörungen und Depression, wobei letzteres aufgrund fehlender eindeutiger Diagnosen weiterer Untersuchung bedarf.
Doch warum ausgerechnet nachts? Das Risiko für nächtliche Gewalttaten kann aus verschiedenen Gründen erhöht sein. Allen voran die einfache Tatsache, dass Familie, Freunde oder etwa Therapeuten nachts meist nicht erreichbar sind. So haben etwa Betroffene mit suizidalen Gedanken nicht die Möglichkeit, sich mitzuteilen oder Hilfe zu holen.
Auch wenn Suizide, Morde und nächtliches Wachsein miteinander korrelieren, kann doch keine eindeutige Aussage darüber getroffen werden, welcher der beiden Grund und welcher die Ursache ist. Jedoch kann sich beides möglicherweise bedingen.
Patienten oder Ärzte im Schichtdienst oder mit Schlafproblemen sind aber per se keine Bedrohung für Leib und Leben. Trotzdem könnt ihr schlaflosen Patienten zu einem körperlichen Ausgleich und Entspannungsübungen raten.
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