Etwa jeder zehnte Schlaganfallpatient entwickelt zentrale neuropathische Schmerzen (Central poststroke pain). Das stellt Ärzte vor Probleme: CPSP ist leicht zu übersehen, Pharmakotherapien haben starke Nebenwirkungen und die Studienlage ist mangelhaft. Was können Ärzte tun?
Derzeit erleiden etwa 260.000 Menschen pro Jahr einen Schlaganfall. Auf Ärzte kommen damit erhebliche schmerzmedizinische Herausforderungen zu: Etwa sechs bis acht Prozent von ihnen entwickeln nach dem Schlaganfall zentrale neuropathischen Schmerzen (Central poststroke pain, CPSP). „Schmerzen nach einem Schlaganfall treten häufig auf, werden in der Praxis aber nicht immer gleich entdeckt“, sagt Privatdozent Dr. Gerhard Jan Jungehülsing im Gespräch mit DocCheck. Er ist Chefarzt der Neurologie im Jüdischen Krankenhaus Berlin. Das hat folgenden Grund: Von Schlaganfällen sind vor allem Menschen zwischen dem 70. und 85. Lebensjahr betroffen. „In der Altersgruppe treten aber auch ohne Schlaganfall bei 25 bis 30 Prozent Schmerzen innerhalb der nächsten Monate neu auf“, erklärt der Neurologe. Er nennt spastische Schmerzen oder Gelenkschmerzen als wichtigste Beispiele. CPSP wird nicht nur häufig übersehen. Selbst bei korrekter Diagnose stehen Ärzte vor der Herausforderung, dass es nur wenige Studien zur Medikation gibt. Pharmakotherapien gehen mit starken Nebenwirkungen einher. Was können Ärzte trotz der schlechten Datenlage schon heute unternehmen?
Gerhard Jan Jungehülsing © Jüdisches Krankenhaus Berlin „Um CPSP zu erkennen, brauchen wir meist keine aufwändige Diagnostik“, sagt Jungehülsing. „Ein kalter Gegenstand und ein Holzspatel, den ich durchbreche, reichen aus.“ Wie soll das gehen? Normale Berührungsempfindungen und tiefe Temperaturen lösen bei CPSP-Patienten starke Schmerzen aus, Neurologen sprechen von einer Allodynie. Ein ähnliches Phänomen wird bei mechanischen Schmerzreizungen etwa mit spitzen Holzstücken als Hyperalgesie bezeichnet. Meist kommt es zu Missempfindungen in den Armen, weniger häufig in den Beine, dem Körperstamm oder dem Gesicht. Die Schmerzcharakteristik ist je nach Patient sehr variabel ausgeprägt: Brennende, kribbelnde, stechende und einschießende Beschreibungen des Schmerzes deuten auf neuropathische Schmerzen hin, es kommt aber auch zu dumpfen und drückenden Schmerzen. Bekannte Risikogruppen sind Menschen mit sensorischen Infarkten, sprich Infarkten, bei denen sensorische Bereiche im Gehirn geschädigt worden sind. „In der Praxis hat sich gezeigt, dass es sich oft um leichte Schlaganfälle mit Beteiligung des Hirnstamms, des Thalamus oder Kortex handelt,“ erklärt Jungehülsing. Bei dieser Risikogruppen , also Patienten mit sensorischen Infarkten, spricht der Neurologe von einem 20- bis 25-prozentigen Risiko. Zudem wurden bei der epidemiologischen Studie PRoFESS (Prevention Regimen for Effectively avoiding Second Stroke) mit 15.754 Patienten Faktoren wie Alkohol, Statine, depressive Symptome, Diabetes mellitus, antithrombotische Therapien bzw. eine periphere arterielle Verschlusskrankheit in ihrer Vorgeschichte als Risikofaktoren für Schmerz nach Schlaganfall identifiziert.
„Es gibt immer wieder Patienten, die CPSP Monate oder Jahre später entwickeln, aber in der Klinik ist uns das so nicht aufgefallen“, sagt Jungehülsing. Zusammen mit seinem Kollegen Dr. Thomas Krause hat er mehr als 100 Patienten mit sensorischem Infarkt in eine prospektive, bislang unveröffentlichte Studie aufgenommen. Alle Teilnehmer wurden möglichst früh untersucht – weit bevor es zu Schmerzen kommen konnte. Tatsächlich haben mehr als ein Viertel in den Wochen und Monaten nach dem Infarkt Schmerzen entwickelt. Aus der klinischen Erfahrung weiß Jungehülsing, dass Patienten schon früh Missempfindungen z.B. beim Händewaschen haben. Typisch sei auch ein Gefühl, als würde man Gummihandschuhe tragen. Erst später treten dann Schmerzen auf. Um sich dem Schmerzempfinden neurobiologisch zu nähern, haben Krause und Jungehülsing Patienten mit CPSP im MRT untersucht. Die Aufnahmen wurden mit gesunden Kontrollen verglichen. „Patienten mit Thalamus-Infarkt und Schmerzen haben Infarkte meist weiter hinten und unten im Thalamus“, berichtet der Experte. Hier sind Fasern zu finden, die Schmerz- und Temperaturreize leiten, was eine weitere Erklärung für die Entstehung der typischen Beschwerden sein könnte. Im Gehirn macht ein ansonsten wünschenswertes Phänomen, nämlich die kortikale Plastizität, Ärger. „Patienten entwickeln eine Art Schmerzgedächtnis“, erklärt Jungehülsing. Dies lasse sich trotz diverser Unterschiede am ehesten mit Phantomschmerzen vergleichen. Im Thalamus werden Nervenfasern durchtrennt, und ein Schmerzgedächtnis entsteht. Hirnareale werden aktiviert, die eigentlich in Ruhe sein sollten. Nicht alle Patienten entwickeln CPSP nach dem Insult. Warum unterschiedliche Bereiche im Gehirn wachsen oder atrophieren, ist unklar. „Wir sehen jedoch, dass Prozesse in kortikalen Bereichen früh in unterschiedliche Richtungen laufen“, erklärt der Neurologe. Dieses Wissen liefert auch Chancen für die Therapie.
„Je früher wir behandeln, desto wirksamer und erfolgreicher ist wahrscheinlich die Therapie“, fasst Jungehülsing zusammen. „Wir suchen nach Prädiktoren, um Patienten mit hohem Schmerzrisiko zu identifizieren.“ Evidenzbasierte Ansätze gibt es noch nicht, aber sehr wohl die oben geschilderten klinischen Erfahrungswerte. Sollte er Hinweise auf ein hohes CPSP-Risiko haben, kommen Pharmaka vorbeugend für einen begrenzten Zeitraum zum Einsatz. Hier lauetet das Motto behandelnder Ärzte meist: Besser drei bis vier Wochen Nebenwirkungen in Kauf nehmen als aufgrund des Schmerzgedächtnisses jahrelang an CPSP zu leiden. Welche Wirkstoffe stehen aktuell zur Verfügung? Neurologen arbeiten mit Antikonvulsiva und trizyklischen Antidepressiva. Im Bereich der Antikonvulsiva verringerten Gabapentin und Pregabalin die Schmerzintensität signifikant. Das Antidepressivum Amitriptylin ist sowohl therapeutisch als auch prophylaktisch wirksam. Und Fluvoxamin, ein selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, zeigt ebenfalls Effekte. „Letztlich entscheiden wir aufgrund von Komorbiditäten und Verträglichkeit, welches Pharmakon wir einsetzen“, berichtet der Experte. Eine erste Wahl im klassischen Sinne gebe es nicht.
In den letzten Jahren haben Arbeitsgruppen außerdem nicht pharmakologische Ansätze untersucht. Eine Metaanalyse kommt bei nicht invasiven Verfahren zu recht ernüchternden Resultaten. Nur die transkranielle Magnetstimulation (TMS) und die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) verbesserten Beschwerden signifikant. Die Aussagekraft der Metaanalyse ist allerdings beschränkt. Die Autoren weisen auf teilweise kleine Patientengruppen und schwer vergleichbare Studienbedingungen hin. Außerdem sind invasive Strategien bekannt. Bei therapierefraktären Beschwerden kann eine Stimulation des motorischen Kortex über Elektroden in Erwägung gezogen werden. Randomisierte Studien mit Scheininterventionen gibt es bislang nicht. Für die Tiefenhirnstimulation existieren eher widersprüchliche Daten. In der Literatur sind Fallberichte und kleinere Studien zu finden, die Hinweise auf einen Mehrwert zeigen. Aber nicht immer scheint das Verfahren zu funktionieren. Viele Ansätze sind vielversprechend, ohne bessere Studien und ohne präzise neurobiologische Erklärungen aber schwer zu bewerten.
Zusammenfassend weist Jungehülsing darauf hin, wie wichtig es ist, CPSP adäquat und vor allem schnell zu behandeln: „Als Neurologen müssen wir stark auf die Lebensqualität von Patienten achten.“ An erster Stelle stünde da immer die Autonomie des Patienten. Aber ebenso wichtig sei es, die Schmerzen des Patienten im Blick zu haben. „Und gerade auf diesem Gebiet haben wir in letzter Zeit viel gelernt“, resümiert Jungehülsing.