Wie sehr verlasst ihr euch auf das EKG? Vielleicht sollet ihr manchmal etwas mehr darüber nachdenken, was das Gerät so ausspuckt – es könnte Leben retten.
Ich sehe oft Kollegen, die sich ausschließlich auf die automatische Interpretation ihres EKG-Gerätes verlassen. Der Streifen kommt raus, dann fällt der Blick sofort auf das Textfeld: „Ah schön, ein Sinusrhythmus.“ Ein wohlwollendes Nicken, ein transzendenter Blick zum Kollegen, ohne eine eigene Interpretation vorzunehmen und das Hirn anzustrengen. Dann wird eingeladen und ab in die Klinik. Man geht davon aus, dass das Gerät automatisch recht hat. Aber die Notfallmedizin ist und bleibt ein Hochrisikobereich. Nichts ist manchmal so, wie es scheint – selbst, wenn die Interpretation durch einen Computer mittels eines hochentwickelten Glasgow-Algorithmus erfolgt.
Die 85-jähige Marianne B. lebte in einer Wohnung im Pflegeheim zusammen mit ihrem Mann im Bereich des betreuten Wohnens. Am Vorabend ging es ihr noch gut, aber am darauffolgenden Morgen kam die alte Dame nicht richtig auf die Beine und fühlte sich zittrig und fahrig. Auf dem Weg zum Zähneputzen synkopierte sie einmalig und legte sich wieder ins Bett. Die alte Dame fühlte sich richtig schlecht und rief über einen hausinternen Notruf um Hilfe. Die Pflegekraft erhob die Vitalparameter. Der Blutzucker lag bei 40 mg/dl, obwohl Frau B. gar nicht an Diabetes litt. Der Blutdruck lag bei 80/40 mm/Hg. Die Pflegekraft rief zunächst die Hausärztin. Diese kam vorbei, wusste allerdings auch nicht weiter und verließ die Szenerie unverrichteter Dinge. Frau B. sollte den Rettungsdienst rufen, sollte sich die Symptomatik nicht bessern oder gar noch verschlechtern. Dies tat Frau B. dann auch – und mein Kollege und ich kamen ins Spiel.
Frau B. berichtete von ihrer Synkope am Waschbecken und sagte, dass sie das von sich nicht kenne und sie so schwach sei. Immer wenn sie aufstehe, werde ihr schwindelig, und sie muss sich sofort wieder setzen. Sie verneinte Thoraxschmerz, Bauch- oder Rückenschmerzen und alles, was mich irgendwie auf eine kardiale oder orthostatische Schiene hätte bringen können. Der initiale Blutdruck lag an der untersten Grenze und war seitengleich an beiden Armen. Der Blutzucker befand sich in einem akzeptablen Bereich, da die Pflegefachkraft bereits Glukose oral gegeben hatte.
Sofort kam mir in den Sinn, dass das Problem iatrogen entstanden sein und die Patientin vielleicht die falschen Medikamente gestellt bekommen haben könnte. Eventuell ein Sulfonylharnstoff, das durch Aktivierung spannungsgeladener Calciumkanäle und Enzymaktivierung die Insulinausschüttung anregt und so eine Hypoglykämie hervorrufen kann. Und ein Antihypertonikum, das nun den Druck runterhaut. Ich befragte die Pflegekraft, erhielt aber keine schlüssige Antwort.
Frau B. nahm einiges an Medikamenten ein: Formoterol, Pantoprazol, Simvastatin, Levodopa, Torasemid, Latanoprost, Alendronsäure, Apixaban, Lithium, Amoxicillin, Lorazepam. Ich las, dass sie an einer Rechtsherzinsuffizienz litt und bemerkte die stehenden Hautfalten. „Trinken Sie denn genug?“, fragte ich. Die Antwort war von vorneherein klar, denn welcher betagte Mensch trinkt schon genügend? Aber dass jemand dann derart hypoglykäm wird? Erfahrungsgemäß müsste der Patient bei massiver Exsikkose mit dem Zucker nach oben gehen. Bei unserer Patientin lag auf jeden Fall kein Diabetes vor. Wir suchten weiter.
xABCDE: Keine relevante und versorgungspflichtige Blutung vorhanden. Die Patientin sprach mit uns, somit lag kein Atemwegsproblem vor. Die Sättigung lag bei 97 Prozent unter minimaler Sauerstoffgabe bei bekannter respiratorischer Insuffizienz – also hatten wir keine Gasaustausch-Problematik. Der Druck war grenzwertig bei 87/50, Herzfrequenz: 81 Schläge pro Minute, normale Darmgeräusche, weicher Bauch. Möglicherweise hatten wir ein C-Problem, aber als kritisch hatte ich die Patientin aufgrund ihres Allgemeinzustandes zunächst nicht eingeschätzt. Kein Thorax- Rücken-, Kopf oder Bauchschmerz. Keine Übelkeit oder Erbrechen. D war durch die Pflegefachkraft behoben worden. Der Blutzucker lag mittlerweile bei 163 mg/dl. E zeigte sich unauffällig.
Also ab in die Klinik? Intern mit Zustand nach Synkope? Ja, aber vorher noch schnell ein 12-Kanal-EKG. Nach einiger Zeit surrte der Streifen aus dem Gerät. Dass mein erster Blick sofort auf die automatische Interpretation fiel, konnte ich gar nicht vermeiden:
Der Glasgow-Algorithmus des EKG-Gerätes erkannte zwar ein „abnormales EKG“, jedoch bemerkte es keine akut kritischen EKG-Veränderungen. Es lag ein überdrehter Rechtstyp als Zeichen einer möglichen Rechtsherzbelastung vor. Also alles einigermaßen im Rahmen? EKG packen, Patientin mit einem Zugang und Flüssigkeit versorgen und ab in die Klinik? Aber irgendetwas stimmte hier nicht. Ich kniete mich vor das ausgebreitete EKG und betrachtete es erneut. Die Ableitungen in V2–V4 sahen seltsam aus. Für mich sahen die Komplexe aus, als hätte die Patientin doch etwas Größeres. In mehreren benachbarten Vorderwandableitungen lagen massive ST-Strecken-Senkungen mit negativer T-Welle vor. Eine akute Ischämie?
Aber wenn der hochgelobte Algorithmus einen ungefährlichen Sinusrhythmus erkannte – wieso sollte meine eigene Interpretationsfähigkeit dann besser sein? Komme ich nun in die Klinik und habe einen nicht vorhandenen Infarkt angemeldet, gibt es blödes Kopfschütteln von allen Seiten und mein Status als Notfallsanitäter wird wieder angezweifelt. Bringe ich Marianne B. als nicht dringlich in die Notaufnahme und sie hat aber einen Infarkt, bin ich der medizinisch unterbelichtete Notfallsanitäter, der viel zu viel darf, aber nichts richtig kann. Also was tun? Einfach fahren oder lieber auf den großen Alarmknopf drücken?
Meine eigene Interpretation des EKGs sah so aus:
Aber:
In Anbetracht des Blutdruckabfalls, der Synkope und des Allgemeinzustandes bestand für mich zu diesem Zeitpunkt damit der dringende Verdacht auf einen akuten NCS-STEMI, bei dessen Erkennung das Gerät völlig versagt hatte. Aber es wurde noch besser, als ich mich entschied, die erweiterten Ableitungen V7–V9 nachzulegen. Wenig überraschend zeigten sich ST-Hebungen als Zeichen eines akuten Hinterwandinfarktes. Die ST-Senkungen in V2–V4 waren somit nur Sekundärbefunde, die den STE-ACS reziprok als Spiegelbilder in den Vorderwandableitungen abgebildet haben. Dementsprechend wurde es dann doch der große Alarmknopf:
Marianne B. hat es überlebt. Sie erhielt eine Herzkatheter-Untersuchung und lebt wieder in einer der obersten Etagen des betreuten Wohnens mit phänomenalem Ausblick über eine Millionenstadt mit ihrem Mann zusammen. Dort bin ich ihr zufällig begegnet, als ich einen Einsatz bei einem anderen Patienten auf derselben Etage hatte. Sie grüßte mich und verschwand dann in ihrer Wohnung.
Die Take-Home-Message dieses Falls ist klar: Technik kann eine wertvolle Unterstützung sein, letztendlich liegt es aber an der Urteilskraft des Rettungsdienstpersonals, die richtigen Schlüsse aus einem rosafarbenen EKG-Streifen und dem Patientenzustand zu ziehen. Die Notfallmedizin bleibt eine Hochrisiko-Disziplin, in der der Mensch mit seinem Fachwissen, seiner Intuition und seiner Kombinationsfähigkeit unersetzlich ist. Vertraue also nicht ausschließlich auf die Technik, außer du bist ein Fan unnötiger Komplikationen. Hast du das Gefühl, es passt etwas nicht, dann passt etwas nicht. Daran darf auch ein Computer nichts ändern.
Bildquelle: Rettungsdienst-Realtalk