Ein Aufschrei ging durch Deutschland, als Journalisten Mitte 2013 über Arzneimitteltests in der früheren DDR berichteten. Experten präsentierten nun einen Zwischenbericht. Ihr Fazit: Viele Fragen lassen sich nur über Archive pharmazeutischer Hersteller klären.
Seit den frühen 1970er-Jahren galten in westlichen Ländern Europas strengere Regelungen für Arzneimitteltests – unter anderem als Lehre aus dem Contergan-Skandal. Ab diesem Zeitpunkt entdeckten Hersteller aus der Bundesrepublik und aus anderen westlichen Ländern die DDR als geeignetes Territorium für ihre Studien. Jetzt bemühen sich Experten um eine möglichst lückenlose Aufklärung der Vergangenheit.
Seit Juni 2013 sichtete Professor Dr. Volker Hess vom Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité zusammen mit Kollegen diverse Aufzeichnungen. Im Zuge des Forschungsprojekts sah sein Team alte Akten ein und befragte Zeitzeugen. Einige Eckpunkte ihres kürzlich vorgelegten Berichts: Zwischen 1980 und 1990 haben westliche Firmen etwa 300 Arzneimittelstudien in der DDR durchgeführt. Untersuchungen fanden vor allem in Berlin statt, weitere Schwerpunkte waren Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Alles lief nach ehemaliger DDR-Maxime hierarchisch organisiert ab.
Ob sich Zeitzeugen korrekt und wertfrei erinnern, ist in diesem Zusammenhang fraglich: Betroffene werden anders berichten als Studienleiter, und politische Funktionen im ehemaligen Regime erschweren die Sache weiter. Bleiben noch Berge an stummen Zeugen: Viele Akten sind im Bundesarchiv gelandet. Deren Auswertung zeigt vor allem zwei Phasen. Erste Tests fanden relativ unsystematisch bereits in den 1970er-Jahren statt. Als Verantwortliche erkannten, dass hier Devisen zu holen sind, schloss sich eine zweite Phase von 1983 bis 1990 an – mit Papierbergen im Bundesarchiv. Daraus lassen sich Tests mit mehr als 5.000 Personen rekonstruierten, für Boehringer Mannheim, Ciba-Geigy, Hoechst und Schering. Die DDR hatte alle Verträge über Alexander Schalck-Golodkowskis berühmt-berüchtigte „Kommerzielle Koordinierung“ (Koko) und deren Firmen abgewickelt.
Zu den Wirkstoffen selbst: Hersteller testeten unter anderem Chemotherapeutika, Heparine, Insuline und Präparate gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen – schon damals ein prosperierender Markt. Bei letzteren kam es zu vergleichsweise vielen Todesfällen, was nicht zwangsläufig mit den Pharmaka in Zusammenhang stehen muss. Vielfach handelte es sich um ältere, multimorbide Patienten. Vorschriften für Medikamententests gab es auch in der DDR, ohne Zweifel. Allerdings existieren Belege, dass Teilnehmer nicht zugestimmt hatten beziehungsweise dass Bögen nachträglich manipuliert worden waren. Politiker wiederum hatten laut Aktenlage Ärzte und Apotheker unter Druck gesetzt, Studien zu beschleunigen. Teilweise wurde DDR-Wissenschaftlern oder Gesandten westlicher Firmen jeglicher Zutritt zu Prüfeinrichtungen verwehrt. Viele Anhaltspunkte, viel Arbeit: „Noch fehlt uns die historische Tiefe“, gibt Studienleiter Volker Hess zu bedenken. Wissenschaftler hoffen, bis zum Projektende Ende Dezember 2015 in Archiven früherer Auftraggeber zu recherchieren.