Nach einem Unfall stellen Ärzte oft die Diagnose Schleudertrauma – doch das lässt sich nur schwer objektiv nachweisen. Übertreiben Patienten bei ihren Symptomen, um Schadensersatz zu kassieren?
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Das Schleudertrauma ist die häufigste Diagnose nach Verkehrsunfällen, die keine Krankenhausbehandlung nach sich zieht. Meist entsteht es, wenn der Kopf bei einem Heckaufprall peitschenartig nach vorne und zurück geschleudert wird – seltener sind frontale oder seitliche Zusammenstöße die Ursache.
Die Symptome lassen sich in verschiedene Klassen einstufen. In fast allen Fällen sind sie nur leicht oder mäßig: etwa muskelkaterartige Schmerzen, ein steifer oder empfindlicher Nacken, manchmal auch eine verringerte Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Deutlich seltener treten zusätzlich neurologische Beschwerden wie ein Kribbeln oder ein Taubheitsgefühl auf. Als schwerste Ausprägung kommen Wirbelbrüche dazu.
So klar strukturiert die Klassifikation sein mag, so schwierig ist die Diagnose. Denn nur sehr selten lässt sich ein Schleudertrauma wirklich objektiv nachweisen. Mit bildgebenden Verfahren kommt man kaum weiter: Nur bei der schwersten Stufe wäre überhaupt ein Trauma sichtbar – die weniger schweren Ausprägungen sind schließlich unter anderem dadurch klassifiziert, dass es keine messbaren Verletzungen gibt. „Als Arzt muss ich mich größtenteils auf die Aussagen der Patienten und Patientinnen verlassen“, sagt Dr. David-Christopher Kubosch. Er ist Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Wirbelsäulenchirurgie an der MZV Gelenk-Klinik. Und selbst bei tatsächlich nachweislichen Problemen sieht er die Diagnose kritisch: „Wenn jemand bei einem Verkehrsunfall einen Bruch eines Wirbels erleidet, würde ich es entsprechend des Bruches klassifizieren und nicht als Schleudertrauma.“
Was als Semantik erscheinen kann, ist in der Realität für viele Betroffene wichtig: Nicht unbedingt zur Linderung der Symptome, die in der Regel nach kurzer Zeit von selbst verschwinden, sondern bei der Frage des Anspruchs auf Schadensgeld. „In meiner Zeit als Leiter der Wirbelsäulenchirurgie an einer Uniklinik habe ich wöchentlich zwei bis vier Gerichtsgutachten angefertigt und es ging fast immer um die Diagnose Schleudertrauma“, berichtet Kubosch. In Deutschland können Betroffene je nach Schweregrad ein Schmerzensgeld zwischen 250 bis 13.000 Euro bekommen. Immerhin reicht nicht allein ein ärztliches Attest, zusätzlich ist ein unfallanalytisches und biomechanisches Gutachten nötig. Sprich: Es muss gezeigt werden, dass ein Schleudertrauma als Folge des Unfalls auch plausibel ist.
Dennoch scheint der finanzielle Anreiz die Diagnose deutlich wahrscheinlicher zu machen. Das zeigt etwa eine Untersuchung in Kanada, wo es lange Zeit ähnliche Zahlungen gab wie in Deutschland. Ab dem 1. Januar 1995 allerdings änderte sich das System und man bekam für ein Schleudertrauma kein Schmerzensgeld mehr. Daher untersuchte im Jahr 2000 ein Forschungsteam, wie häufig in der Zeit vor und nach der Änderung Versicherungsansprüche gestellt wurden. Und tatsächlich: Ohne finanziellen Anreiz gab es weniger Schleudertrauma-Diagnosen, die noch dazu eine bessere Heilungsprognose bekamen.
Entsprechend gibt es Versuche, möglichst objektive Methoden zu finden, die ein Flunkern oder Übertreiben erkennen. Dazu können Ärzte derzeit einen Fragebogen nutzen, der zumindest teilweise die Wahrheit herausfiltern kann. Wirklich wirksame Wege existieren jedoch bislang nicht – und Mediziner stehen dabei ohnehin vor einem Problem, sagt David-Christopher Kubosch: „Wenn es zu einem Prozess kommt, gilt es, so objektiv wie möglich die Situation zu beurteilen. Ein leichtgradiges Schleudertrauma zeigt jedoch oftmals keine sicheren objektiven Befunde, der Patient leidet zumeist unter subjektiven Beschwerden. Als Arzt gibt es keinen Grund, einem Patienten nicht zu glauben, wenn er oder sie sagt, dass etwas schmerzt.“
Dazu kommt: Um eine ernsthafte Verletzung auszuschließen, müssen bildgebende Verfahren zum Einsatz kommen. „Ich muss mir schon sehr sicher sein, dass es keine strukturellen Probleme gibt, welche die Beschwerden verursachen“, so Kubosch. Dann sei es aber wahrscheinlich, auch etwas zu finden: „Bei den allermeisten Menschen ab 30 bis 40 Jahren gibt es gewisse Verschleißerscheinungen.“ Somit werde es richtig kompliziert: Sind diese Spuren eine Folge des Unfalls oder waren sie vorher schon da? „Und was ist, wenn jemand bereits eine leichte Schädigung an der Wirbelsäule hatte, die sich durch den Unfall verschlimmert hat? War dann der Unfall schuld?“
Selbst für die Betroffenen kann die Beschäftigung mit möglichen Symptomen ungünstig sein. Denn wer immer wieder erzählt, wie mies er sich fühlt, hat wirklich eine schlechtere Prognose. In der Forschung nennt es sich „pain catastrophizing“, also den Schmerz als schlimmer darstellen und dadurch wahrnehmen, als er eigentlich ist. Wie die Betroffenen mit ihren Symptomen umgehen, müsse daher in der Diagnose und Behandlung mitbedacht werden, schreiben kanadische Forscher nach einer entsprechenden Untersuchung.
David-Christopher Kubosch hält die Diagnose Schleudertrauma letzten Endes für wenig hilfreich. Ihm geht es schlicht darum, dass seine Patienten ihre Symptome loswerden. Bei leichten, kurzfristigen Beschwerden hat sich mittlerweile gezeigt, dass Bewegung hilft – anstatt wie früher üblich den Nacken zu fixieren. Komplexer ist es bei chronischen Problemen. Dann sei es umso wichtiger, die Ursache und eine wirksame Therapie zu finden. Das könne etwa Physiotherapie, Massagen, Akupunktur oder eine schmerztherapeutische oder psychologische Begleitung beinhalten. Für einen Schadensanspruch sind derartige Beschwerden gar nicht mehr relevant. „Wenn jemand langfristig leidet, wird das rechtlich oftmals nicht dem Unfall zugeschrieben“, so der Arzt. „In der Regel halten Schmerzen nach einem leichtgradigen Schleudertrauma zwei bis maximal zwölf Wochen an.“
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Schwierige Diagnose: Schleudertrauma ist die häufigste Diagnose nach Verkehrsunfällen, die keine Krankenhausbehandlung erfordern. Diese Diagnose ist jedoch schwierig zu stellen, da objektive Nachweise selten sind. Ärzte müssen sich oft auf die subjektiven Aussagen der Patienten verlassen, da bildgebende Verfahren nur bei schweren Fällen etwas zeigen.
Finanzielle Anreize: Untersuchungen legen nahe, dass finanzielle Anreize die Häufigkeit der Diagnose beeinflussen können. In Kanada führte die Abschaffung von Schmerzensgeld für Schleudertrauma dazu, dass weniger Diagnosen gestellt wurden und die Heilungsprognosen sich verbesserten.
Symptomverschärfung: Die Diagnose Schleudertrauma kann die Symptome sogar verschlimmern, da Patienten ihre Schmerzen als schlimmer wahrnehmen könnten. Bewegung hat sich bei leichten Symptomen als hilfreicher erwiesen als Schonung. Chronische Probleme erfordern hingegen gezielte Therapien wie Physiotherapie oder psychologische Begleitung.
Quellen:
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