Lisa liebt gesundes Essen – aber sie nimmt immer weiter ab. Ihre Ärzte sind besorgt. Wie ihr eine Orthorexie erkennt und ob das überhaupt eine eigenständige Krankheit ist, lest ihr hier.
Lisa, 21 Jahre alt, Studentin. In einer schwierigen Lebenssituation hat sie sich sehr auf gesunde Ernährung fokussiert – und damit etwas Stabilität zurückgewonnen. Lisa exkludiert immer mehr Lebensmittel, die sie für nicht gesund hält. Sie wollte sich einfach gut fühlen, ethische Aspekte spielten auch eine große Rolle. Lisas Selbstwertgefühl stieg, ihr Umfeld schenkte ihr Anerkennung für ihre gesunden Entscheidungen – und ehe Lisa sich versah, war sie stark untergewichtig und zeigte orthorektische Verhaltensweisen. Eine Anorexia nervosa wird diagnostiziert. So oder so ähnlich geht es vielen, besonders jungen, Menschen.
„Die Entwicklung von orthorektischem Essverhalten findet sich auf einem Kontinuum – ausgehend in der Regel von einem ganz normalen, gesunden Essverhalten“, sagt Dr. Silke Naab am Kongress Ernährung 2024 in Leipzig. Orthorexia nervosa definiert sich durch eine pathologische Fixierung auf als gesund klassifizierte Lebensmittel – was dabei als „gesund“ gilt, kann für jeden Patienten anders sein. Aktuell ist das Krankheitsbild keine eigens klassifizierte Essstörung – könnte sich das bald ändern?
Geprägt wurde der Begriff Orthorexie bereits 1997 durch Dr. Steven Bratman, der laut eigener Aussage selbst an Orthorexie litt. 2015 versuchte man in einem Review, Kriterien für eine Diagnose der Orthorexia nervosa zu entwickeln – auch hier war Brantman einer der Co-Autoren. Unter anderem wurden folgende Symptome definiert:
Spätere Studien sehen auch Parallelen zu Anorexia nervosa, Zwangsstörungen und somatoformen Störungen. „Orthorexie ist oft eine Kompensation anderer emotionaler Probleme“, so Naab. „Die Personen, die diese Symptomatik zeigen, haben allerdings eher eine geringe Einsicht in die Unsinnigkeit und Übertriebenheit ihres Verhaltens. Und das trotz körperlicher Folgen – wie Abmagerung oder gegebenenfalls Mangelernährung – und psychosozialer Folgen – wie Depressivität, Rückzug und Isolation.“
Besonders oft betroffen seien Personen, denen ihre Gesundheit generell schon besonders wichtig ist, so Naab. Betroffene brauchen einen hohen Grad an Kontrolle in ihrem Leben und leiden oft unter sozialen Ängsten. Viele fühlen sich auch zur Spiritualität hingezogen. „Vielleicht steckt auch eine gewisse Konformität dahinter“, sagt Naab. „Die Zugehörigkeit zu einer gewissen Gruppe kann für Betroffene sehr wichtig sein.“
„Von psychiatrischer Seite betrachtet, liegen dem sicher auch eine dysfunktionale Emotionsregulation und ein gewisser Perfektionismus zugrunde. Narzisstische, ängstliche und zwanghafte Persönlichkeitsmerkmale spielen ebenfalls eine Rolle“, so Naab.
„Unter ICD-10 würde man eine Orthorexie wohl am ehesten als ‚nicht näher bezeichnete Essstörung‘ deklarieren“, so Naab. Denn Orthorexie ist aktuell noch kein eigenständiges Störungsbild. Die Überschneidung mit Patienten, die unter Anorexie oder Bulimie leiden, ist hoch. Orthorexie wird deshalb oft als Unterkategorie der Anorexia nervosa angesehen. Zu diesem Schluss kommt auch aktuelle Literatur zum Thema (hier und hier).
Auf Grund der hohen Komorbidität mit anderen Essstörungen, wird Orthorexie oft in einer stationären Essstörungsbehandlung mitbehandelt. So kommt es im Verlauf einer üblichen Essstörungstherapie von beispielsweise Bulimie oder Anorexie ebenfalls zu einer erheblichen Verbesserung orthorektischer Tendenzen. „Die Orthorexie ist laut Studien also mehr eine Variante einer Essstörung, im Sinne eines Subtyps restriktiver Essstörungen.“
Das wird wohl sehr wahrscheinlich auch in Zukunft so bleiben, bestätigt Naab gegenüber DocCheck: „Die Aussicht ist, dass – so wie die aktuelle Studienlage ist – das weiterhin so bleibt, dass Orthorexie kein eigenständiges Störungsbild ist. Die Untersuchungen müssen aber dahin gehen, besser zu differenzieren. Also ich gehe davon aus, dass bis auf Weiteres die diagnostische Situation so stehen bleibt, wie wir sie heute haben.“
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