Die pharmazeutische Forschung ist voller Überraschungen. Während so manch vielversprechender Wirkstoff im angedachten Einsatzgebiet floppt, macht er auf einem ganz anderen Gebiet Karriere. Hier kommen fünf Beispiele von Drug Repurposing.
Eigentlich war das Ziel von Chemikern bei Pfizer, Anfang der 1990er-Jahre ein Präparat gegen Hypertonie und Angina pectoris zu entwickeln: Sildenafil.
Klinische Studien der Phase I deuteten aber darauf hin, dass das Molekül zumindest bei Angina pectoris kaum Effekte zeigt. Bei Probanden kam es aber – für die Forscher zunächst überraschend – zu Nebenwirkungen in Form von Erektionen. Pfizer beschloss Jahre später, die Spur weiterzuverfolgen. Die US Food and Drug Administration (FDA) hat Viagra® 1998 bei erektiler Dysfunktion zugelassen. Das Medikament wurde zu einem der größten wirtschaftlichen Erfolge des Konzerns.
Es gilt heute als Paradebeispiel für die Neupositionierung eines Medikaments – und ist kein Einzelfall. Denn Drug Repurposing gilt als Möglichkeit, Wirkstoffkandidaten deutlich schneller, mit mehr Erfolg und mit weniger Geld ans Ziel zu bringen als komplett neue Moleküle:
Credit: Zhe Zhang et al.
Auch der alte Wirkstoff Colchicin erstrahlt aufgrund einer Vielzahl an Studien in neuem Glanz. Seine Wirkung bei Gicht ist seit Jahrhunderten bekannt. Auch zur Behandlung von Patienten mit familiärem Mittelmeerfieber und Morbus Behçet sowie zur Verringerung des kardiovaskulären Risikos kommt der Wirkstoff zum Einsatz. Studien zeigen, dass Colchicin als Ergänzung zur konventionellen entzündungshemmenden Behandlung die Rate an Perikarditis-Rezidiven signifikant verringert.
Kleinster gemeinsamer Nenner aller Indikationen sind die antiinflammatorischen Eigenschaften der Substanz. Colchicin hemmt die Funktion der Mikrotubuli bei der Zellteilung, die Migration von Neutrophilen zum Ort entzündlicher Prozesse, verhindert die Freisetzung von Entzündungsmediatoren und hemmt das Inflammasom: ein Proteinkomplex, welcher an der Biosynthese proinflammatorischer Zytokine beteiligt ist.
Weiter geht es mit Amantadin. Was heute nur noch wenige Ärzte wissen: Nachdem 1963 Studien gezeigt hatten, dass das Molekül antivirale Eigenschaften hat, erhielt es eine Zulassung zur Prophylaxe von Infektionen mit dem Influenzavirus A. Bei der Therapie kommt es zu einer Antagonisierung des M2-Protonenkanals im Influenzavirus A, und die Freisetzung viralen genetischen Materials in das Zytoplasma des Wirts wird unterbunden.
Heute gehört Amantadin zu den etablierten Therapien bei Morbus Parkinson. Der Mechanismus seiner Wirkung wurde bislang nicht vollständig verstanden. Amantadin ist ein schwacher Antagonist des Glutamatrezeptors vom NMDA-Typ, erhöht die Dopaminausschüttung und blockiert die Dopaminwiederaufnahme. Es wirkt indirekt agonistisch auf Dopamin-Rezeptoren im Striatum.
Auch Minoxidil ist zu neuer Blüte erwacht. Ursprünglich wurde es zur Behandlung von Hypertonie entwickelt – speziell bei Patienten mit schwerem Bluthochdruck, die auf mindestens zwei Wirkstoffe und ein Diuretikum nicht ansprechen.
Topisches Minoxidil wird inzwischen auch zur Behandlung von Haarausfall eingesetzt. Es fördert das Haarwachstum bei Menschen mit androgenetischer Alopezie, unabhängig vom Geschlecht. Das Präparat muss jedoch dauerhaft zum Einsatz kommen. Ansonsten schwindet der Effekt nach und nach.
Wahrscheinlich spielen die Erweiterung der Blutgefäße und die Öffnung der Kaliumkanäle beim Effekt eine Rolle. Zu den Haarfollikeln gelangen bei besserer Durchblutung mehr Sauerstoff und mehr Nährstoffe. Zusätzlich scheint Minoxidil die Telogenphase des Haarzyklus zu verkürzen; die Wachstumsphase (Anagenphase) wird schneller erreicht.
Auf eine besonders wechselvolle Geschichte blicken Forscher bei Contergan® (Thalidomid) zurück. Als Schlaf- und Beruhigungsmittel sowie zur Behandlung morgendlicher Übelkeit hat es viel Leid verursacht. Wird es innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft eingenommen, sind schwere Fehlbildungen der Gliedmaßen möglich. Schätzungsweise 10.000 Babys sind geschädigt worden. Doch darum soll es heute nicht gehen.
Vielmehr fanden Wissenschaftler heraus, dass Thalidomid in Kombination mit Melphalan und Prednison zu einem Überlebensvorteil beim Multiplen Myelom führt. Das Molekül kann hilfreich sein, wenn bei Tuberkulose Standardtherapien versagen. Thalidomid ist darüber hinaus eine mögliche Zweitlinienbehandlung bei Stomatitis aphthosa und bei der Graft-versus-Host-Reaktion bei Kindern. Auch bei aktinischer Prurigo und bei Epidermolysis bullosa wird das Pharmakon mitunter verwendet.
Nicht nur bei seltenen Erkrankungen dieser Art eignet sich Drug Repurposing. Auch bei der Corona-Pandemie haben Forscher diesen Trumpf gezogen. Ihre Idee: Zu Remdesivir gab es bereits umfangreiche Daten. Das Virostatikum wurde ursprünglich zur Behandlung von Infektionen mit dem Ebola- oder Marburg-Virus entwickelt, ohne durchschlagenden Erfolg. Hinzu kam, dass bald darauf Impfstoffe gegen Ebola verfügbar waren. In mehreren Studien hat sich gezeigt, dass vor allem Patienten mit erhöhtem Risiko für schweres COVID-19 davon profitieren.
Die Beispiele zeigen, dass Drug Repurposing ein Weg ist, um neue Indikationen bereits zugelassener Wirkstoffe zu finden. Nur waren viele dieser Entdeckungen eher zufällig. Künstliche Intelligenz könnte dazu beitragen, in Real-World-Daten Muster zu entdecken, bei denen sich weitere Studien lohnen.
Bildquelle: Joshua Earle, Unsplash