In den USA nehmen viel mehr Menschen Statine ein als nötig – das behauptet zumindest eine Forschergruppe. Haben wir in Europa ein ähnliches Problem?
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Die Einführung neuer Instrumente für die Risikovorhersage kardiovaskulärer Ereignisse könnte zu einer erheblichen Reduzierung der Statin-Empfehlungen führen, berichtet ein Forscherteam aus den USA. Dies könnte 4,1 Millionen Erwachsene in den USA betreffen, die derzeit als Primäprävention Statine einnehmen.
Die Studie von Timothy et al., erschienen im Fachblatt JAMA, untersucht die potenziellen Auswirkungen einer weit verbreiteten Einführung der sogenannten PREVENT-Gleichungen (Predicting Risk of Cardiovascular Disease Events). Diese wurden im November 2023 von der American Heart Association veröffentlicht und dienen zur Beurteilung des 10-Jahres-Risikos von Patienten für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall. Neu daran ist unter anderem, dass andere Messgrößen wie die Nierenfunktion, den Index der sozialen Benachteiligung und die Einnahme von Statinen mit einbezogen werden.
In der Studie war die Verwendung der PREVENT-Gleichungen im Vergleich zu den 2013 von AHA/American College of Cardiology gepoolten Kohortengleichungen (PCE) mit geringeren Risikoeinschätzungen für eine arteriosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung über Alters-, Geschlechts- und Bevölkerungsgruppen hinweg verbunden.
Mithilfe von PREVENT stellte das Team fest, dass in der gesamten Kohorte der Studie das 10-Jahres-Risiko, an ASCVD zu erkranken, bei 4 % lag und damit halb so hoch war wie das vom PCE berechnete Risiko (8 %). Noch größer war der Unterschied bei Schwarzen Erwachsenen (5,1 % gegenüber 10,9 %) und bei Erwachsenen im Alter zwischen 70 und 75 Jahren (10,2 % gegenüber 22,8 %).
Die Querschnittsstudie ergab damit, dass die Verwendung der PREVENT-Gleichungen dazu führt, dass weniger Erwachsene in den USA für eine primärpräventive Statintherapie in Frage kamen. Allerdings gab die Mehrheit der Erwachsenen, die für eine solche Therapie auf der Grundlage der PREVENT-Gleichungen in Frage kamen, keinen Statinkonsum an.
In Zahlen ausgedrückt, würden 17,3 Millionen Erwachsene, denen zuvor eine Statintherapie zur Primärprävention empfohlen wurde, nicht mehr die Voraussetzungen erfüllen, darunter 4,1 Millionen Erwachsene, die derzeit Statine einnehmen.
Die Autoren weisen jedoch daraufhin, dass es wichtig zu beachten ist, dass sich auch das Risiko jedes Einzelnen im Laufe der Zeit unweigerlich ändern kann. „Ein Patient, von dem wir jetzt wissen, dass er einem geringeren Risiko ausgesetzt ist, als wir bisher dachten, und wenn wir ihm empfehlen, die Einnahme von Statinen abzubrechen, könnte fünf Jahre später immer noch wieder einem höheren Risiko ausgesetzt sein, und zwar aus dem einfachen Grund, dass das Risiko bei jedem steigt, wenn wir werden älter werden“, resümieren sie.
Chiadi Ndumele, Vorsitzender der CKM Scientific Advisory Group der American Heart Association, wirft ein, dass die tatsächlichen PREVENT-Risikoschwellen für den Einsatz von Statinen in der Herz-Kreislauf-Prävention in klinischen Leitlinien festgelegt werden müssen, und dies sei noch nicht geschehen. Er räumte auch Kritik am früheren Risikomodell ein. Es bleibt abzuwarten, ob eine Anpassung der Leitlinien erfolgt.
Die Erkenntnisse zur Bedeutung der Senkung des Low Density Lipoprotein-Cholesterin (LDL) für die Prognose der Atherosklerose haben Eingang in die Leitlinien der ESC/EAS von 2019 gefunden. Besonders für Patienten mit sehr hohem kardiovaskulären Risiko wird eine konsequente Senkung des LDLs mit Statinen empfohlen. Der LDL-Zielwert wird in Abhängigkeit von der Risikokategorie definiert. Für asymptomatische Patienten im Alter von 40 bis 70 Jahren wird das SCORE-System verwendet, das das individuelle 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse berechnet.
Inzwischen wurden mit SCORE2 und SCORE2-OP (letzterer für betagtere Personen) optimierte Nachfolger publiziert. Die Scores sind online frei verfügbar. Bei Patienten mit „sehr hohem Risiko” gemäß SCORE-System wird eine LDL-Senkung ≥50 % und eine absolute Senkung <55 mg/dl (<1,4 mmol/l) empfohlen. Erwähnenswert ist, dass Patienten mit bekannter Atherosklerose und dass die meisten Patienten mit Diabetes auch als Patienten mit „sehr hohem Risiko” eingestuft und entsprechend konsequent behandelt werden.
Die ESC-Leitlinie von 2021 zur Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen beinhaltet Empfehlungen sowohl für Gesunde als auch für kardiovaskulär und metabolisch vorerkrankte Menschen. Die Leitlinie enthält die Empfehlungen für Menschen im Alter von 70 bis 90 Jahren, die in bisherigen Leitlinien wenig berücksichtigt wurden. Die Leitlinie verfolgt dabei einen sequenziellen Ansatz für personalisierte Präventionsstrategien. Es wird zu einer Stufentherapie zur LDL-Reduktion geraten, die auf dem errechneten 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse basiert.
Primär wird ein hochpotentes Statin als Erstlinientherapie eingesetzt. Wenn der Zielwert nicht erreicht wird, sollte eine Kombination mit Ezetimib erfolgen. In der Sekundärprävention wird bei Nichterreichen der Zielwerte durch die Kombination von Statin plus Ezetimib zusätzlich ein PCSK9-Inhibitor empfohlen. Bei Patienten mit LDL-C-Werten >190 mg/dl sollte eine Untersuchung auf familiäre Hypercholesterinämie erfolgen.
Kurze Zusammenfassung für Eilige:
Einführung der PREVENT-Gleichungen zur Risikovorhersage kardiovaskulärer Ereignisse könnte die Anzahl der Personen, die Statine zur Primärprävention einnehmen, erheblich reduzieren. Dies betrifft 4,1 Millionen Erwachsene in den USA.
Die Studie zeigt, dass das 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen mit den PREVENT-Gleichungen deutlich niedriger ist als mit den bisherigen PCE-Gleichungen, was zu einer geringeren Empfehlung von Statinen führt.
Europäische Leitlinien betonen weiterhin die Bedeutung der LDL-Senkung bei hohem kardiovaskulären Risiko und empfehlen bei Nichtansprechen eine abgestufte Therapie mit hochpotenten Statinen plus Ezetimib und PCSK9-Inhibitor. Anpassungen der Leitlinien aufgrund neuer Erkenntnisse bleiben abzuwarten.
Quelle:
Anderson et al. Atherosclerotic Cardiovascular Disease Risk Estimates Using the Predicting Risk of Cardiovascular Disease Events Equations. JAMA Intern Med, 2024. doi: 10.1001/jamainternmed.2024.1302
Leitlinien der ESC/EAS von 2019
ESC-Leitlinie von 2021 zur Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen
Bildquelle: Liam Shaw, Unsplash