Die Studienlage zur Behandlung von Geschlechtsdysphorie ist recht dünn und das Vorgehen umstritten. In einigen US-Bundesstaaten greift man schnell zur Hormontherapie, in anderen ist das verboten. Ein aktueller Bericht befeuert den Streit erneut.
In den USA ist erneut eine hitzige Diskussion um den Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie entbrannt. Auslöser war wohl die Veröffentlichung des sogenannten Cass-Berichts im Vereinigten Königreich. Er wurde vom britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) bei der Pädiaterin Dr. Hilary Cass in Auftrag gegeben und sollte sich den Praktiken und der medizinischen Betreuung von Kindern mit Störungen der Geschlechtsidentität widmen und diese analysieren. In ihrem Bericht kam Cass zu dem Schluss, dass die Evidenz für den Einsatz von Pubertätshemmern und anderen Hormonpräparaten bei Jugendlichen „bemerkenswert schwach“ sei.
Das American College of Pediatricians (ACP), eine sozialkonservative Interessenvertretung von Kinderärzten in den USA, veröffentlichte nun ein Statement, in dem sie starke Kritik an den großen US-Fachgesellschaften übte. Der Vorwurf: die Bagatellisierung von geschlechtsangleichenden Maßnahmen bei Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsdysphorie. Zusammen mit der Gruppe Doctors Protecting Children fordert das ACP die großen amerikanischen Ärzteverbände wie die American Academy of Pediatrics (AAP) auf, den Betroffenen keine medizinischen Behandlungen zu empfehlen, sondern sich zuerst mit der psychischen Komponente der Geschlechtsdysphorie zu befassen.
Sie schreiben: „Angesichts der jüngsten Forschungsergebnisse […], rufen wir die medizinischen Berufsorganisationen der Vereinigten Staaten auf, der Wissenschaft und ihren europäischen Berufskollegen zu folgen und die Förderung von Pubertätsblockern, Hormonbehandlungen und Operationen für Kinder und Jugendliche, die unter ihrem biologischen Geschlecht leiden, unverzüglich einzustellen.“ Stattdessen sollten umfassende Untersuchungen und Therapien empfohlen werden, die darauf abzielen, „die zugrundeliegenden psychologischen Komorbiditäten und die neurologische Vielfalt zu erkennen und zu behandeln, die häufig eine Geschlechtsdysphorie begünstigen und begleiten.“
In den USA haben fast zwei Dutzend Bundesstaaten die Hormonbehandlungen und Operationen bei den Jugendlichen bereits verboten. In den übrigen Staaten werden sie als evidenzbasiert und notwendig befürwortet. Die AAP lehnte es ab, sich zu den spezifischen Ergebnissen von Dr. Cass zu äußern, und verurteilte die staatlichen Verbote. „Politiker haben sich mit ins Behandlungszimmer gedrängt – das ist für Ärzte und die Familien gefährlich“, sagte Dr. Ben Hoffman, Präsident der Organisation. Auch Dr. Scott Leibowitz, medizinischer Direktor des THRIVE-Programms am Nationwide Children's Hospital und Vorsitzender des Ausschusses für Fragen der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität der American Academy of Child & Adolescent Psychiatry, sagt über die Kritik der ACP: „Es kann sich kaum um eine glaubwürdige medizinische Organisation handeln, wenn sie sich konsequent dafür entscheidet, die Wissenschaft und die wachsende Evidenzbasis zu ignorieren, die eindeutig die Vorteile einer Behandlung von LGBT-Jugendlichen aller Altersgruppen aufzeigt.“
In Europa ist die Medizin in dieser Frage noch deutlich zurückhaltender, als in den erwähnten US-Bundesstaaten. Auch Dr. Cass fordert dazu auf, in diesem Bereich noch mehr zu forschen. „Ich kann mir keine andere Situation vorstellen, in der wir lebensverändernde Behandlungen durchführen und nicht genug darüber wissen, was mit diesen jungen Menschen im Erwachsenenalter geschieht. Ich habe mit jungen Erwachsenen gesprochen, denen es eindeutig gut geht – eine medizinische Behandlung war für sie das Richtige. Ich habe aber auch mit jungen Erwachsenen gesprochen, für die es die falsche Entscheidung war, die es bereuen und die diesen Weg verlassen haben. Die entscheidende Frage ist, wie wir am besten vorhersagen können, bei wem die Behandlung erfolgreich sein wird und bei wem nicht.“
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