Die landläufige Meinung ist: Menschen mit Asperger-Syndrom seien nicht empathisch. Das ist auch das Ergebnis vieler Studien, die den Fokus auf den kognitiven Anteil der Empathie legten. Eine aktuelle Studie, die den affektiven Anteil untersuchte, zeigt nun das Gegenteil.
Viele Studien zur Empathie bei Asperger-Syndrom arbeiten unter anderem mit Fragebögen oder mit Experimenten, bei denen die Studienteilnehmer relativ viel nachdenken können. Florence Hagenmuller und Kollegen der Universität Zürich haben nun ein Experiment durchgeführt, bei dem es nicht viel nachzudenken gab: Sie untersuchten, wie Teilnehmer mit und ohne Asperger-Syndrom reagieren, wenn sie einem Menschen dabei zuschauen, wie er in eine Zitrone beißt. Die Wissenschaftler haben dabei die direkte physiologische Reaktion gemessen, indem sie die Stärke des Speichelflusses der Studienteilnehmer ermittelten. An ihrer Studie nahmen 29 Teilnehmer mit Asperger-Syndrom und 28 Kontrollpersonen teil. Die 11 weiblichen und 18 männlichen Teilnehmer der Asperger-Gruppe waren durchschnittlich 35 Jahre alt. Das Durchschnittsalter der Kontrollgruppe lag bei 33 Jahren und auch hier nahmen nur 11 Frauen teil. Die Patienten der Asperger-Gruppen hatten die Diagnose „Asperger“ gemäß den DSM-IV-Kriterien von erfahrenen Ärzten und Psychologen erhalten.
Alle Studienteilnehmer schauten sich ein Video an, auf dem eine Person zu sehen war, die in eine Zitrone biss. Auf dem Bild waren Zitronen auf einem Tisch zu sehen. Die Person hatte eine Zitrone in der Hand und verzog beim Hineinbeißen das Gesicht. Florence Hagenmuller und Kollegen analysierten, wohin die Probanden schauten und wie lange sie das taten. Die „Areas of Interest“ waren zum einen das Gesicht und zum anderen die Zitronen auf dem Tisch. Beim Blick auf das Gesicht differenzierten die Wissenschaftler nochmals zwischen dem Blick auf die Augen und dem Blick auf den Mund. Die Blicke der Probanden wurden mit einem Eye-Tracker erfasst. Des Weiteren trugen die Probanden während des Experiments drei Wattebäuschchen im Mund. Die Forscher ermittelten die Speichelmenge, indem sie die Wattebäuschchen vor und nach dem Experiment wogen. Eine hohe Speichelmenge war ein Zeichen für ein starkes Mitgefühl mit der Person auf dem Video.
Die Salivation bei den Teilnehmern der Asperger-Gruppe war signifikant geringer als bei den Teilnehmern der Kontrollgruppe. Während 24 Teilnehmer der Kontrollgruppe verstärkt Speichel bildeten, war dies nur bei 19 Teilnehmern der Asperger-Gruppe der Fall. In beiden Gruppen bildeten die Probanden jedoch mehr Speichel, je älter sie waren, was die Annahme unterstreicht, dass die Empathiefähigkeit mit dem Alter generell zunimmt. Studien zeigen, dass auch Menschen mit Asperger-Syndrom mit zunehmendem Alter mitfühlender werden.
Interessante Ergebnisse lieferte auch das Eye-Tracking: Hier zeigte sich, dass der Speichelfluss besonders dann in Gang kam, wenn die Probanden auf das Gesicht der Person auf dem Video schauten. Je länger sie das taten, desto stärker war der Speichelfluss. Die Teilnehmer der Asperger-Gruppe blickten weniger intensiv auf das Gesicht, dafür aber verstärkt auf die Zitronen auf dem Tisch. Auch das entspricht den Ergebnissen anderer Studien, die zeigen, dass Menschen mit Asperger-Syndrom den Blickkontakt vermeiden. Bei den Kontrollteilnehmern war der Speichelfluss insbesondere verbunden mit der Besorgnis über die Person auf dem Video. Die Reaktion der Kontrollteilnehmer erfolgte intuitiv beim Blick ins Gesicht der Person auf dem Video.
Florence Hagenmuller und Kollegen konnten zeigen, dass die physiologische Reaktion bei Menschen mit Asperger-Syndrom ebenso eintritt wie bei Menschen ohne Asperger-Syndrom. Die Salivation wurde besonders bei denjenigen Teilnehmern der Asperger-Gruppe induziert, die angaben, dass sie sich in Büchern und Filmen oft in andere Personen hineinversetzen. Die Autoren gehen daher davon aus, dass sich Empathie teilweise intellektuell trainieren lässt.
Die Schweizer Wissenschaftler gehen davon aus, dass Menschen mit einem Asperger-Syndrom umso empathischer werden, je länger sie ihre sozialen Fähigkeiten auf intellektueller Ebene trainieren. Je älter sie werden, desto mitfühlender werden sie. „Autistische Empathie“ sei also kein Oxymoron, schließen die Autoren.