Ohne leitliniengerechte Behandlung erleiden Menschen mit Typ-2-Diabetes zahlreiche Folgeerkrankungen. So weit, so bekannt – allerdings verringern Therapien die Lebensqualität ebenfalls. Grund genug für Wissenschaftler, beide Faktoren gegeneinander abzuwägen und therapeutische Alternativen zu entwickeln.
Hypertonien, Retinopathien, Nephropathien, Herzinfarkte, arteriosklerotische Veränderungen oder ein diabetischer Fuß: Das Spektrum möglicher Folgeerkrankungen bei Typ-2-Diabetes ist groß. Ärzte setzen auf eine bestmögliche Compliance ihrer Patienten, um Spätkomplikationen nach Möglichkeit zu vermeiden. Sie schulen Patienten und führen regelmäßig Untersuchungen durch. Dabei wird ein ganz zentraler Aspekt übersehen, berichtet Sandeep Vijan aus dem US-amerikanischen Ann Arbor in „JAMA Internal Medicine“.
Zusammen mit Kollegen hat der Forscher untersucht, welchen Einfluss Therapien, aber auch Folgeerkrankungen auf die Lebensqualität haben. Vijan arbeitet mit qualitätskorrigierten Lebensjahren (quality adjusted life years, QALY): ein Parameter, der ursprünglich für Kosten-Nutzen-Analyse im Gesundheitswesen entwickelt wurde. Beispielsweise bedeutet 1,0 QALY, dass Patienten zwölf Monate bei voller Gesundheit verbringen. Liegt der Wert bei null, sind sie verstorben. Erblindungen durch diabetische Retinopathien schlagen mit minus 0,31 QALY zu Buche. Häufig vergessen Ärzte, dass Patienten das Spritzen von Insulin als extrem unangenehm empfinden (minus 0,02 bis minus 0,12 QALY). Auch orale Antidiabetika haben ihre Schattenseiten: Typ-2-Diabetiker nehmen durch Sulfonylharnstoffe beziehungsweise Glitazone mehr oder minder stark zu, was einem Wert von minus 0,04 QALY entspricht. Sandeep Vijan gibt zu bedenken, dass therapeutisch bedingte Nachteile möglicherweise schwerer wiegen als der Benefit, Spätkomplikationen zu vermeiden. Dies zeigt er an einem Patienten, die im Alter von 75 Jahren therapiert wird. Bei ihm ist laut mathematischen Simulationen die Wahrscheinlichkeit, Amputationen, Nierenversagen oder Erblindungen zu vermeiden, extrem gering. Therapeutische Nachteile (minus 0,025) führen schlussendlich zu einer negativen Gesamtbilanz beim QALY-Wert. Noch deutlicher zeigen die Autoren, was passiert, sollte bei betagten Menschen der HbA1c-Wert von 7,5 auf 6,5 Prozent abgesenkt werden. Hier fanden sie minus 0,01 QALY. Das muss nicht sein: Laut Studiendaten schnitt Metformin gut ab, da Hypoglykämien selten auftraten und es zu keiner Gewichtszunahme kam. Ein 75-jähriger Diabetiker erreicht, um beim Beispiel zu bleiben, plus 0,148 QALY, sollte er seinen HbA1c-Wert von 8,5 auf 7,0 Prozent verringern. Bleibt als Fazit für Heilberufler, ihre therapeutische Strategie nicht nur an Laborparametern festzumachen, sondern Betroffene individuell zu betrachten.
In diesem Zusammenhang noch ein Blick auf Insulin. Für Patienten sind Injektionen mit verringerten Lebensqualitäten verbunden, berichtet Sandeep Vijan. Grund genug, neue Applikationsformen wie inhalatives Insulin zu entwickeln. Sieben Jahre, nachdem Exubera® vom Markt verschwunden ist, startet es der US-amerikanische Konzern MannKind einen neuen Versuch und entwickelte Afrezza®. Vertreter der US Food and Drug Administration gaben grünes Licht für dieses inhalative Kurzzeit-Insulin bei Typ-2-Diabetes. An der relevanten Studie nahmen 1.991 Patienten teil. Sie erhielten Afrezza® oder Placebo, jeweils mit oralen Antidiabetika kombiniert. Das inhalative Insulin schnitt erwartungsgemäß besser ab. Einige Verbesserungen im Vergleich zu Exubera®: Wissenschaftler haben sogenannte Technosphere®-Parikel aus Fumaryl-Diketopiperazin hergestellt, um die Resorption zu beschleunigen. Auch gelingt es Patienten leichter, Insulineinheiten umzurechnen. Die Kehrseite: Afrezza® kann einen akuten Bronchospasmus auslösen. Bleiben noch wissenschaftliche Unklarheiten. So fordert die FDA von MannKind weitere Studien zur Pharmakokinetik. Das Thema Lungenkrebs ist ebenfalls aktuell, nachdem zwei Raucher und zwei Nichtraucher unter Verum erkrankt waren. Auch hier werden Untersuchungen folgen.
Bleibt als weitere Alternative, mit Insulinpumpen zu arbeiten. Hier sahen Ärzte ursprünglich vor allem Typ-1-Diabetiker. Eine neue Veröffentlichung zeigt, dass Patienten mit fortgeschrittenem Typ-2-Diabetes über entsprechende Systeme deutlich bessere HbA1c-Werte erreichten, ohne dass gefährliche Hypoglykämien auftraten. Yves Reznik von der Universizé de Caen nahm in seine randomisierte Studie 331 Patienten auf, bei denen es nicht gelungen war, den HbA1c-Wert unter acht Prozent zu verringern. Teilnehmer spritzten sich entweder mehrmals täglich Insulin oder erhielten eine Pumpe. Als primären Endpunkt legten Forscher Veränderungen bei den HbA1C-Werten fest. Ihr Resultat: In der Pumpengruppe verbesserte sich dieser Parameter um 1,1 Prozentpunkte, während es bei der Kontrollgruppe nur 0,4 Prozentpunkte waren. Der Unterschied ist signifikant. Reznik berichtet weiter, dass Patienten mit einer Insulinpumpe im Schnitt 97 Einheiten pro Tag benötigten. Bei klassischen Injektionen waren es 122, was laut Veröffentlichung auf eine effizientere Applikation durch technische Systeme hindeutet. Schwerwiegende Hypoglykämien gab es nicht. In Einzelfällen verstopften Schläuche jedoch aufgrund der hohen Insulinmengen. Bleibt abzuwarten, wie Krankenkassen reagieren. Unter Aspekten der Lebensqualität profitieren Patienten auf alle Fälle.