70 Wochenarbeitsstunden sind keine Seltenheit für Ärzte. Wie muss sich ihr Arbeitsalltag in Zukunft verändern – und was können sie noch leisten? Auf dem Deutschen Ärztetag haben sie nun Vorschläge erarbeitet.
Seit gut 50 Jahren wird Deutschland jedes Jahr älter. Parallel steigen seit gut 30 Jahren ambulante und stationäre Fallzahlen kontinuierlich. Technische Entwicklung und eine Ausweitung des ärztlichen Angebots verleiten Patienten zudem immer frühzeitiger medizinischen Rat zu suchen – oftmals ohne, dass dies notwendig wäre. Der sorglose Umgang mit Praxis-Terminen erschwert Ärzten den Alltag on top. Als wäre das nicht genug, wurde das Thema Aus- und Weiterbildung ebenfalls verschlafen. „Alle von uns arbeiten am absoluten Leistungslimit. (…) Redundanzen (…) werden wir uns nicht mehr leisten können. Wir müssen diese abschaffen und unnötige Prozeduren herunterfahren“, erklärt Ärztepräsident Reinhardt.
Neue und neu-alte Lösungsansätze, um den nicht schwer auszumalenden Versorgungsmangel bestmöglich abzufedern, konnten diese Woche vorgestellt werden. Das zentrale Element, um Versorgung zu gewährleisten – vor dem Hintergrund einer vorerst kaum zu steigernder Zahl an Versorgenden: Eine effiziente Patientensteuerung in der Notfall- sowie Regelversorgung. G-BA-Chef Josef Hecken wies mit deutlichen Worten darauf hin, dass hierfür insbesondere die Politik ein Einsehen haben und diejenigen ins Boot holen müsse, die „jeden Tag sehen, wo die Missstände des Systems liegen“. Reinhardt schlug in die selbe Kerbe: „Herr Lauterbach lebt wohl zu stark in der Vorstellung, dass wir nur die ärztlichen Interessen vertreten und nicht im Sinne eines Gemeinwohls handeln.“
Nun brauche es, da sind sich die Ärzte einig, eine hausarztzentrierte Versorgung, die in engmaschiger Absprache mit den Fachkollegen koordiniert – bestenfalls in einer optimierten, schnelleren digitalen Absprache. „Das Kernelement einer Versorgungssteuerung wird eine Guidance sein müssen. Nicht jeder beispielsweise, der Rücken hat, weiß wo er hingehen muss“, erklärt KBV-Vizechef Stefan Hofmeister und appelliert daran, dass man Patienten stärker an die Hand nehmen müsse.
Parallel müssen die Leitstellen von ärztlichem Bereitschaftsdienst und Rettungsdienst im Rahmen der Notfallversorgung enger vernetzt werden. Die notwendige Zugangssteuerung, um echten Mehrwert zu schaffen, habe der G-BA dazu bereits erarbeitet und auf dem Tisch liegen.
Gefährlich werde es für die politische Seite, weil die Debatte darüber eine gesellschaftliche werden müsse – und damit zum Zankball in Partei- und Wahlkampf werden könne. Ein wie auch immer gearteter Rahmen müsse auch bei den Patienten ansetzen und die Menschen über System und Angebote allgemein aufklären, gleichzeitig aber auch Modelle wie Praxis- oder Versäumnisgebühren ermöglichen.
Um Abhilfe insbesondere im stationären Sektor zu schaffen, wird man ohne sinnige Personalbemessung nicht auskommen. Diese müsse nun bereits im Rahmen des KHVVG implementiert werden. Auch hier hat die Ärzteschaft bereits vorgearbeitet: Mit dem ÄPS-BÄK ist ein fachübergreifendes System entwickelt, das umgehend in Kliniken eingesetzt werden könnte.
Gleichzeitig seien die bisherigen „Untergrenzen, die von der Politik gesetzt werden, gefährlich, weil sie sich nicht an der Praxis orientieren und es einfach nicht dem Ethos entspricht, wenn man Patienten verlegen oder Stationen schließen muss, weil temporär vielleicht eine Person zu wenig sei. Es braucht abteilungsindividuelle oder leistungsindividuelle Lösungen, denn ein ,one size fits all‘ kann niemals funktionieren“, erklärt BÄK-Vizepräsidentin Susanne Johna. Das System – zu dem sich auch Minister Lauterbach gesprächsbereit zeigte, habe den Vorteil, dass es „Daten über eine Krankenhausabteilung, darunter Anzahl an Ärztinnen und Ärzten, Fallzahlen, Bereitschaftsdienste oder Ausfallzeiten [erfassen kann und daraus] berechnet wird, wie viele Ärztinnen und Ärzte in einer Abteilung für eine vollumfängliche Erfüllung aller notwendigen Aufgaben gebraucht werden.“
Die dritte Säule für eine vorübergehende – und perspektivisch langfristige – Sicherung der Versorgung ist die seit 2017 vertagte Reform des Medizinstudiums. Nachdem vor allem die Aufstockung der Studienplätze immer populärer wurde und sich das BMG einsichtig zeigte, muss es laut Giulia Ritter, Präsidentin der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) darum gehen, dass die Approbationsordnung angepasst werde.
Den Studenten geht es dabei vor allem um die Verzahnung von praktisch-klinischen mit grundlagenwissenschaftlichen Inhalten sowie eine Verbindlichkeit des Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalogs Medizin. Ohne diese Anpassungen würde auch die reine Studienplatzerhöhung kaum weiterhelfen, würden doch viele Kollegen entweder gar nicht erst abschließen oder entsprechend anschließend ins Ausland wechseln.
„Uns ist es unerklärlich, wie all die Gesundheitsreformgesetze aktuell ohne die neue Approbationsordnung diskutiert werden können“, sagt Ritter und appelliert an die Politik: „Einigen Sie sich auf eine sinnvolle Finanzierung dieser Approbationsordnung. Sie bildet die Basis der zukünftigen Ärzteschaft. Ohne Reform des Studiums kann auch die beste Krankenhausreform nicht helfen.“
Selbst wenn die bereits im „Masterplan Medizinstudium 2020“ erstmals formulierten Forderungen nun umgesetzt würden, rechne man mit Änderungen im laufenden Betrieb erst ab 2027 – angehende Ärzte, die dann mit dem Studium beginnen, kämen vor Mitte der 30er Jahre nicht in der Versorgung an. Um die Bedarfslücke zu schließen, warf Ärztepräsident Reinhardt nun Ideen ins Plenum, die verdiente Ärzte länger bei Laune und im Beruf halten soll: „Wenn wir ihre Arbeitskraft und ihr Erfahrungswissen weiterhin nutzen wollen, sind intelligente und flexible steuerrechtliche Regelungen und Anreize zu schaffen.“ Eine weitere Akutmaßnahme sei die einzurichtende „Taskforce Entbürokratisierung“, die es auch in das Beschlusspapier des Ärztetages geschafft hat. Ein schnell beschlossenes Bürokratieentlastungsgesetz könne immerhin laut KBV 50% der Verwaltungszeit frei machen und so 30.000 Ärzte und 70.000 Pfleger frei machen.
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