Der problematische Umgang mit Cutoff-Scores
ADHS und Autismus sind komplexe Spektrumstörungen, die sich in vielfältigen Symptomen äußern. Besonders bei Mädchen kann es zu subklinischen (unterhalb des diagnostischen Schwellenwerts liegenden) Symptomen kommen, die dennoch bedeutende Auswirkungen auf ihr Leben haben. Der Versuch, eine Cutoff-Grenze für die Diagnose festzulegen, kann bei Spektrumstörungen problematisch sein und die Symptome vieler Mädchen verharmlosen.
Die Psychiater Hallowell und Ratey beschrieben das Konzept der „Schatten-Syndrome“ (Shadow Syndromes), um subtile Varianten von neurologischen oder psychiatrischen Störungen zu beschreiben, die unterhalb der Schwelle klinischer Diagnosekriterien liegen, aber dennoch erhebliche Auswirkungen haben können.
Bei Neurodivergenz ist bekannt, dass auch "subthresold" ADHD oder Autismus-Spektrum zu ganz erheblichen funktionalen Auswirkungen führen können (gerade bei begabteren bzw. hochsensiblen Klientinnen). Wenn also sich weitere Hinweise auf Entwicklungsbesonderheiten, Spektrum-Störungen und weitere Familienmitglieder aus dem ADHS- und Autismus-Bereich ergeben, sollte die Diagnostik sich nicht auf die Fragebögen, sondern die Klinik verlassen.
Bei Mädchen mit subklinischem ADHS oder Autismus kann das sonst u.a. zu folgenden langfristigen Problemen führen:
Das folgende Beispiel ist real, aber zumindest bei uns in der Region kein Einzelfall. Ich kenne nur einen Teil der "Wahrheiten", die möglicherweise dadurch subjektiv bleiben.
Lisa, eine 15-jährige Schülerin, zeigte bereits seit ihrer frühen Kindheit deutliche Anzeichen von Entwicklungsbesonderheiten und Entwicklungsverzögerungen, was zu einer logopädischen Förderung und Ergotherapie führte. In der Schule tritt eine Legasthenie in den Vordergrund, die über Lerntherapie alledings keine wesentliche Veränderung ergibt. Statt hyperaktiv wie ihr Bruder zu sein, war sie jedoch oft verträumt und unaufmerksam, was die Lehrer als „Faulheit“ abtaten obwohl sie lehrerabhängig bisweilen als beste Schülerin der Klasse glänzte, dann aber wieder scheinbar unerklärliche Leistungslücken aufwies. Als sich ihre Schwierigkeiten in der Schule mit 15 Jahren verschärften, wurde sie wegen ihrer Müdigkeit und Antriebslosigkeit zur Kinderpsychiaterin geschickt. Dort diagnostizierte man neben einer Lese-Rechtschreibschwäche eine Adoleszenzkrise und Depression, da sie nicht hyperaktiv erschien und die Diagnosekriterien von #ADHS in der Praxis eher an Jungen orientiert waren.
Ihre fehlende Diagnose führte zu frustraner Kinder- und Jugendpsychotherapie seit 4 Jahren und Schulabsentismus über zwei Jahre. Während dieser Zeit beschäftigte sich Lisa selbst mit Neurodivergenz und fand heraus, dass viele ihrer Symptome typisch für ADHS und Autismus waren. Alle Versuche, eine Adaptation ihrer Geräuschüberempfindlichkeit über Noise-Cancelling oder andere Sitzposition in der Klasse zu erhalten, wurden seitens der Schule und ihrer Therapeutin abgelehnt. Sie begann, ihre Therapie in Frage zu stellen, was die Therapeutin als Widerstand und Verweigerung deutete und eine DBT-Therapie für Jugendliche empfahl, weil sie eine Borderline-Dynamik annahm. Dies führte zu Spannungen und einem Vertrauensverlust, wodurch sich die Behandlung weiter verzögerte.
Die umfangmässig scheinbar "umfassende" Fragebogendiagnostik der renommierten Kinderpsychiater-Praxis (die grösste Praxis in einer Schwerpunktregion) hinterlässt mich allerdings rat- und fassungslos. Damit kann man aus meiner Sicht keinesfalls auch nur Ansatzweise ADHS- oder Autismus erkennen oder gar ausschliessen. Sie belegt eigentlich viel mehr, dass ein grundsätzliches Defizit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. -Psychotherapie darüber besteht, was eigentlich der Kern ihres Fachgebietes sein müsste. Entwicklungsbesonderheiten individualisiert zu beschreiben und zu verstehen, auf Ressourcen und Stärken der Kinder eingehen und vor allem : Einmal ZUHÖREN und VALIDIEREN, was die Klienten und ihre Eltern berichten. Der in den Fragebögen deutliche Ansatz des Misstrauens bzw. Vortäuschen einer Diagnose mit dem Ziel Diagnosen mit einem cut-off-Wert ausschliessen zu können, muss von jeder halbwegs intelligenten Jugendlichen doch sofort als untauglich enttarnt werden!
Tatsächlich dürfte aber die Invalidisierung und fehlende Beachtung ihrer eigenen Wahrnehmung seitens der Kinderpsychiaterin und ihrer Therapeutin massgeblich zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der Symptomatik beitragen, ja sie letztlich verursachen!
Lisa fragte mich, was sie denn hätte anders machen sollen. Und das hat mich so wütend gemacht, dass ich am liebsten bei der Schwerpunktpraxis angerufen hätte. Nur die Tatsache, dass dort am Freitag um 15 Uhr kein Kollege mehr war, hat mich davor geschützt. Das Gespräch wäre eine Katastrophe geworden, wo ich mich der Lächerlichkeit ausgesetzt hätte, so wie Lisa es bei jeder der Sitzungen dort erfährt. Denn wie sollte man Kinderpsychiatern und Kinderpsychologen verständlich machen, dass sie so mehr Schaden als Nutzen anrichten und unbedingt ihr Vorgehen hinterfragen müssen. Ich wäre der Narr, der eben keine Ahnung hat. Aber manchmal macht es eben auch Sinn auf Narren zu hören und seinen eigenen Ansatz zu hinterfragen. Wann wacht die Kinder- und Jugendpsychiatrie da mal auf?
Ein starrer Cutoff-Score wird den vielschichtigen Symptomen von ADHS und Autismus nicht gerecht, insbesondere bei Mädchen, die oft subtilere Symptome zeigen. Subklinische Präsentationen können ernsthafte Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben und sollten nicht übersehen werden. Stattdessen bedarf es einer umfassenden Evaluation und einer sensibleren diagnostischen Praxis, um diese Schatten-Syndrome zu erkennen und eine angemessene Unterstützung bereitzustellen.
Ich schreibe diesen Artikel auch, weil ich betroffene Familien ermuntern möchte, sich wirksame Unterstützung und Verständnis in ihrer Notlage zu suchen (auch oder gerade dann, wenn sie an der Diagnostikstelle eben abgewimmelt wurden). Hierzu können Selbsthilfegruppen wie beim ADHS-Deutschland eV bzw. der neu gegründete Neurodiversitäts-Verband eine Hilfe sein. Auch in meiner ADHSSpektrum-Community (https://adhsspektrum.com/2024/03/27/adhs-community-adhsspektrum/) tauschen wir uns über Erfahrungen und Unterstützungsangebote selbstwirksam aus.