Rund 60 Prozent aller Patienten haben schlechte Gesundheitskompetenzen, so das Resultat einer repräsentativen Befragung der AOK. Heilberufler kommunizieren zwar erfolgreich, doch gibt es Luft nach oben. Jetzt sind Apotheker gefordert, ihr Leitbild umzusetzen - und Kassen sollten die Verantwortung nicht einfach deligieren.
Die Frage, über welche Gesundheitskompetenz (Health Literacy) Patienten verfügen, gewinnt weltweit an Bedeutung. Jetzt hat das Wissenschaftliche Institut der AOK Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage veröffentlicht. Entsprechende Daten basieren auf telefonischen Interviews von 2.010 gesetzlich Versicherten durch das Sozialwissenschaftliche Umfragezentrum der Universität Duisburg-Essen.
Experten sind vom Resultat überrascht: Nach der standardisierten HLS-EU-Skala (European Health Literacy Survey) verfügen rund 14,5 Prozent der Interviewten über eine unzureichende Gesundheitskompetenz, und bei weiteren 45 Prozent ist der Kenntnisstand problematisch. Ein ausreichendes Wissen haben 33,5 Prozent, und lediglich 7 Prozent stellten ausgezeichnete Fähigkeiten unter Beweis. Daraus wurde ein Gesundheitskompetenz-Score von 31,9 errechnet. Dieser Wert liegt deutlich unter dem europäischen Durchschnitt, nämlich 33,8. Spitzenreiter sind die Niederlande (37,1) und Irland (35,4).
Zurück nach Deutschland: Immerhin hatten 39,8 Prozent mit Schwierigkeiten zu kämpfen, um Informationen zur generellen Unterstützung bei psychischen Problemen zu finden. Weitere Hürden waren, herauszufinden, wo Patienten professionelle Hilfe erhalten (27,3 Prozent) oder wo sie etwas zu Krankheitssymptomen nachlesen können (26,3 Prozent). Immerhin verstanden 84,8 Prozent, was Heilberufler erklärten. Mit Anweisungen des Arztes oder Apothekers zur Einnahme verschriebener Medikamente kamen sogar 89 Prozent klar. Gesundheitswarnungen vor schädlichen Verhaltensweisen waren für 89,9 Prozent der Studienteilnehmer nachvollziehbar. Bei Informationen aus diversen Medien, wie sich der Gesundheitszustand verbessern lässt, bestanden größere Schwierigkeiten. Hier gaben nur 68,3 Prozent eine positive Rückmeldung. Ähnlich düster sah es bei der Beurteilung gesundheitsrelevanter Informationen aus. Nur 31,5 Prozent konnten die Vertrauenswürdigkeit von Quellen interpretieren, und 59,3 Prozent taten sich leicht, zu entscheiden, wann sie eine weitere Meinung einholen sollten. Auf Fragen zur Umsetzung gesundheitsrelevanter Informationen kreuzten 86,9 Prozent kreuzten an, den Anweisungen ihres Arztes oder Apothekers einfach beziehungsweise sehr einfach folgen zu können. Nur 55,4 Prozent beurteilten Medien als hilfreich.
Mögliche Folgen dieser Situation: Patienten mit zu geringen Kompetenzen achten weniger auf Prävention und Vorsorge. Sie leben riskanter, was sich in einer höheren Morbidität und Mortalität bemerkbar macht. Bei Pharmakotherapien ist ihre Therapietreue im unteren Bereich anzusiedeln. Mehrausgaben belaufen sich laut AOK auf bis zu 15 Milliarden Euro pro Jahr. Dazu sagt Jürgen Graalmann, Geschäftsführender Vorstand des AOK-Bundesverbandes: „Insbesondere in der Bildung muss Gesundheit einen festen Platz bekommen: schon in der Kita, Vorschule, allen anderen Schulzweigen und in der Erwachsenenbildung sowie der außerschulischen Jugendarbeit.“ Für ihn müssen Informationen „verständlich, nutzerorientiert und qualitätsgesichert“ sein. Kein Einzelfall: Auch in Berlin sorgte die Studie für Wirbel. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) fordert, Heilberufler besser auf ihre Arbeit mit Patienten vorzubereiten. „Dass viele Menschen Schwierigkeiten haben, sich in unserem Gesundheitswesen zurecht zu finden, muss uns aufrütteln.“ Wissen über die Gesundheit entstehe vor allem im persönlichen Gespräch. „Es ist eine Frage des Respekts vor den Patienten, dass ihnen ihre Krankheit und die Therapiemöglichkeiten verständlich erklärt werden.“
Politik und GKVen vergessen in ihrer Argumentation eine Sache: Um Gesundheitswissen zu vermitteln, sind nicht nur Ärzte und Apotheker in der Pflicht, sondern auch Krankenkassen. Zwar verweist Graalmann auf das AOK-eigene Programm "JolinchenKids" für Kindergärten. Mit punktuellen Angeboten dieser Art wird es nicht getan sein - Programme zur Erweiterung von Kompetenzen müssen alle Zielgruppen erreichen. Experten denken speziell an sozial benachteiligte Menschen jeden Alters. Bis heute warten Heilberufler und Bürger vergeblich auf ein Präventionsgesetz, das auch Maßnahmen zur Erweiterung der Gesundheitskompetenz beinhalten könnte - als Pflichtleistungen gesetzlicher Krankenkassen.
Währenddessen diskutieren Pharmazeuten entsprechende Themen beim Leitbildprozess. Im Papier „Apotheke 2030. Perspektiven zur pharmazeutischen Versorgung in Deutschland“ heißt es dazu, die Beratung folge „in Form und Inhalt dem Bedürfnis der zu Beratenden“. Dem Bundesverband der Pharmaziestudierenden in Deutschland fehlt „schlichtweg die Feststellung, dass die derzeitige Ausbildung bereits jetzt einen hohen Bedarf zur Weiterentwicklung besitzt“, heißt es in einem offenen Brief an die ABDA. „Viel zu wenig entwickelt ist für Jungapprobierte das Wissen um die Bedeutung der öffentlichen Apotheke (etwa in Bezug auf den Patienten) und viel zu wenig Zeit bleibt im Studium dafür, diese Erkenntnis eigenständig zu entwickeln. Ebenso bleibt zu wenig Zeit um das durch die Hochschulen vermittelte Wissen adäquat aufzubereiten und für die Anwendung in der öffentlichen Apotheke zu optimieren.“