KOMMENTAR | Tiktok ist wahnsinnig erfolgreich – aber beeinflusst die App auch die Hirnentwicklung? Ein Experte warnt: Die ständige Nutzung sei der perfekte Nährboden für heterogene psychische Störungen.
Tiktok boomt. Millionen von jungen Nutzern, unzählige Clips und endloses Scrollen machen nicht nur Eltern, sondern auch einige Mediziner nervös. Manche Neurowissenschaftler sprechen wegen der möglichen Beeinflussung der Gehirnentwicklung vom „größten sozialen Experiment der Menschheitsgeschichte“. Denn hinter den Tanzvideos und Trend-Challenges lauert eine ernste Problematik: die psychologischen Auswirkungen und Suchtgefahren, die von der App ausgehen können – vor allem für Kinder und Jugendliche. Es geht um Depression, Störungen in der Wahrnehmung von Körper- und Selbstbild oder Ängste.
Während in den USA jetzt ein Gesetz verabschiedet wurde, das ein Verbot von Tiktok zur Folge habe könnte, ist eine solche Maßnahme in der EU unwahrscheinlich. Hier wird eher auf Risikoanalysen und regulative Maßnahmen gegen Suchtgefahren gesetzt. Es läuft aktuell ein EU-Verfahren, das prüfen soll, ob der Mutterkonzern Bytedance bei der Standard-Tiktok-App genug gegen Suchtgefahren und die Verbreitung illegaler Inhalte unternimmt.
Aber: Wie gefährlich ist die App für die mentale Gesundheit junger Nutzer wirklich? Und welchen Einfluss hat die ständige Nutzung auf die Entwicklung des Gehirns? Ein Kommentar des psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Dr. Ahmed El-Kordi.
„Die Nutzung von sozialen Medien, insbesondere solche mit sofortiger sozialer Verstärkung oder Belohnung wie bei Tiktok, Instagram oder Snapchat, kann über unterschiedliche Pfade Einfluss auf die psychische und neurobiologische Entwicklung bei Jugendlichen und jungen Menschen entfalten.
Wir sprechen von einer Imbalance bzw. einem Ungleichgewicht in der Geschwindigkeit und Vernetzung im pubertären Gehirn: Limbische und basale Hirnstrukturen, die für Belohnung und Entscheidungen zuständig sind, reifen schneller bzw. springen schneller auf relevante Reize an als der sich langsam entwickelnde präfrontale Kortex (PFC) mit seinen unterschiedlichen Unterdomänen. Grob gesprochen kümmert sich der PFC um die Verhaltenskontrolle und darum, dass wir ‚vernünftige‘ Entscheidungen treffen.
Aktuelle Studien postulieren, dass risikoreiches Verhalten bei Jugendlichen die Folge einer erhöhten Empfindlichkeit gegenüber Belohnungen im ventralen medialen präfrontalen Kortex (vmPFC) und dem ventralen Striatum (VS) ist, kombiniert mit unreifen kognitiven Kontrollmechanismen aufgrund langsamer Reifung des dorsalen anterioren cingulären Kortex (ACC) und des lateralen PFC. Zusätzlich sind Jugendliche anfällig für sozialen Einfluss durch Gleichaltrige, was Auswirkungen auf die Entwicklung haben kann, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne.
Beide Befunde erklären die Anfälligkeit für Jugendliche für soziale Medien, die sehr rasch eine affektive Antwort auf alle möglichen emotionalen, meist negativen, Zustände haben: Durch direkten sozialen Vergleich kann ich als junger Mensch meine Stimmung entweder anheben, indem ich mich mit anderen vergleiche, die schlechter dran sind, oder herunterdrücken, indem ich mich mit anderen vergleiche, die besser dran sind, z. B. schlanker, attraktiver oder reicher.
Durch die Anfälligkeit des limbischen Systems und die noch nicht entwickelte Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben und negative Affekte auszuhalten (Dysphorietoleranz), entwickelt sich eine Gewöhnung an solchen Medien. Man sucht nach dem schnellen emotionalen Kick! Noch direkter ist die soziale Belohnung, z. B. durch ein Lob wie ‚Siehst du gut aus!‘. Der weitere Beeinflussungspfad ist rein lernpsychologisch: Junge Menschen lernen nicht, ihre Gefühle selber zu regulieren und zu beeinflussen, sondern werden vom sozialen Einfluss abhängig.
Ein paar Stunden ohne soziale Medien können Angst verursachen, das Gefühl, man würde etwas verpassen oder seinen sozialen Rang einbüßen.
Ein weiterer Nebeneffekt ist der verzögerte und dysregulierte Schlaf. Verkürzter oder fragmentierter Schlaf kann besonders während der Jugendzeit schädlich sein, wenn Schlafstörungen durch gesellschaftlichen Druck auftreten und gleichzeitig unser Gehirn sich durch intensive Verfeinerung der neuronalen Konnektivität auf das Erwachsenenleben vorbereitet. Diese Verwundbarkeiten konzentrieren sich auf den präfrontalen Kortex und die limbisch-kortikalen Schaltkreise, die Entscheidungsfindung, Belohnungsverarbeitung, soziale Interaktionen und die Emotionssteuerung. Selbst subtile Störungen der Entwicklung des präfrontalen Kortex während der Jugendzeit können daher eine dauerhafte verhaltensrelevante Schädigung nach sich ziehen.
So stellt die dysfunktionale Nutzung von sozialen Medien bzw. die dadurch vermittelten Inhalte einen Nährboden für heterogene psychische Störungen dar. Der gemeinsame Nenner vieler psychischer Störungen ist eine Störung der Affekt- und Emotionsregulation sowie eine unterentwickelte Frustrationstoleranz.
Aus einer eher soziologischen Perspektive führt auch eine solche Entwicklung zu einer egozentristischen Weltsicht: Es dreht sich alles um das Ich. Wie bin ich? Bin ich der/die Beste? Es führt zu einer Auslenkung auf Äußerlichkeiten und versperrt den Blick für das Wesentliche im Leben.
Ich würde mir auf jeden Fall regulatorische Schritte gegen Tiktok in der EU wünschen. Ich glaube, wenn Sie ein Volk auslöschen oder schwächen wollen, müssen Sie heutzutage keinen Krieg mit üblicher Munition und marktüblichen Waffen führen. Sie brauchen nur die jungen Leute dieses Volkes zu schwächen, und zwar psychisch.
Digitale Medien können leider auch hierfür missbraucht werden, indem man sich auch neurobiologische Aspekte zunutze macht. Das sollten die Regierungen wissen und alles daran tun, um Kinder und Jugendliche davor zu schützen. Digitale Abwehrstrategien sollten viel mehr diese Altersgruppe berücksichtigen. Es geht nicht nur um Schutz der wichtigsten und systemrelevanten Infrastruktur, sondern es sollte auch primär um den Schutz von denjenigen gehen, die diese Infrastruktur eines Tages bedienen sollen.“
Bildquelle: Owen Cannon, Unsplash