Das Altern ist nichts für Feiglinge. Während der Körper zwickt und zwackt, fällt mit dem Renteneintritt auch noch die Arbeit als Sinnstifter weg. Warum Männer damit oft mehr Probleme haben als Frauen, lest ihr hier.
„Demografischer Wandel: Anteil der Bevölkerung ab 65 Jahren von 1950 bis 2021 von 10 % auf 22 % gestiegen.“ Diese und andere Meldungen sind für uns im Gesundheitswesen sehr spürbare Realität. Auch in der stationären und ambulanten psychotherapeutisch-psychiatrischen Versorgung treffen wir zunehmend mehr Patienten über 65 Jahren an.
„Die Zahl der Menschen im Erwerbsalter von 20 bis 66 Jahren wird in den kommenden Jahren abnehmen. Aktuell gehören in Deutschland 51,4 Millionen Menschen dieser Altersgruppe an. Selbst bei hoher Nettozuwanderung würde es bis Mitte der 2030er Jahre zu einer leichten Abnahme um 1,6 Millionen Personen kommen. Bei niedriger Nettozuwanderung könnte die Zahl um 4,8 Millionen Personen sinken.“ Die demographischen Daten und andere soziologische Entwicklungen mit relevanten Auswirkungen auf das Gesundheitssystem machen eine wissenschaftliche und auch praktische Auseinandersetzung mit der Thematik erforderlich.
Seit einiger Zeit befasse ich mich praktisch mit der psychotherapeutischen und neuropsychologischen Behandlung von Patienten – vor allem Männern – im Rentenalter bzw. in der Nacherwerbsperiode. Die im Fokus der ambulanten Versorgung stehenden Störungsbilder sind schwerpunktmäßig affektive Erkrankungen, auch zum hohen Anteil organisch-bedingte psychische Störungen (z. B. Postinfarkt affektive Störung). In einem älteren Beitrag befasste ich mich mit den differentialdiagnostischen und psychopathologischen Aspekten einer Depression bei Männern im Vergleich zu Frauen.
In diesem Artikel möchte ich mich nicht erneut mit dem Thema Depression bei Männern oder sogar speziell bei „älteren Männern“ befassen. Es geht generell um die psychische Gesundheit von Männern im Renteneintrittsalter. Vielmehr geht es außerdem um die Frage der psychischen Vorsorge und Prävention von mentalen Beeinträchtigungen im Alter. In der klinischen Praxis zeigt sich immer wieder, dass Männer vom Renteneintritt stärker, vielleicht sogar „negativer“ betroffen sind als Frauen. Ich möchte mich hier nicht auf Studien beziehen, sondern es geht um subjektive und klinische Erfahrungen. Eine sehr gute und informative Quelle für das vorliegende Thema ist der vierte Deutsche Männergesundheitsbericht der Stiftung Männergesundheit.
Der psychosoziale und sozioökonomische Status ist eine der robusten Variablen, die für die Vorhersage von Gesundheit bzw. Krankheit dort genutzt wird. So zeigt sich in den Daten generell, dass Männer mit mittlerem bis hohem soziökonomischen Status eine höhere Lebenserwartung haben und zusätzlich auch weniger über psychische Beschwerden im Alter klagen. Aus praktischer Erfahrung lässt sich dies auch sehr gut nachvollziehen: Bei vorhandenen finanziellen Ressourcen, die sich metaphorisch wie Airbags in Krisensituationen verhalten, lässt sich einiges an Lebenswidrigkeiten abfedern. Natürlich ist Geld nicht alles, aber ohne Geld ist alt werden äußerst schwierig.
Aspekte wie zusätzliche Pflegeleistungen im häuslichen Umfeld, medizinische Hilfsmittel, gesunde Ernährung (die sehr teuer ist!), bessere medizinische Versorgung, ... das alles kostet Geld. Damit einhergehend sind weitere wirtschaftliche Faktoren wichtig. Lebt man im Eigenheim oder muss die Immobilie noch abbezahlt werden? Ist die Pflege von Angehörigen, z. B. den eigenen Eltern, ein Thema? Letzteres ist sowohl finanziell als auch psychisch sehr relevant.
Das Ganze steht noch in Abhängigkeit von sehr unterschiedlichen weiteren sozialen Faktoren, z. B. ob man Einzelkind ist oder noch weitere Geschwister die Pflege der Eltern mittragen können, ob ein stabiles soziales Netzwerk existiert, was mithilft und zumindest emotionalen Beistand leistet. Für meine sehr selektierte Personenpopulation kommen weitere psychische Aspekte hinzu: Es ist nicht selten, dass man Elternteile pflegen muss, die in früheren Jahren misshandelnd waren. Eltern, die es vielleicht mit ihren Kindern gut gemeint, aber es dennoch nicht gut gemacht haben. Als Betroffener in dieser Situation zu sein, vielleicht auch als Einzelkind oder als einziger, der regional in der Nähe der Eltern wohnt, stellt eine große psychische Herausforderung dar.
Ist es für einen Mann psychisch belastender, seine Eltern zu pflegen, als für eine Frau? Nein, würde ich sagen. Dies auch ganz ohne Rückgriff auf Studien, denn diese sind mir an dem Punkt leider nicht bekannt. Wieder aus praktischer Erfahrung kann ich berichten, dass die Pflege von Angehörigen, insbesondere wenn die pflegende Person selber im hohen Alter ist, unabhängig vom Geschlecht der pflegenden Person, sehr belastend und destabilisierend sein kann. Nur: Frauen gehen mit psychischem und emotionalem Stress anders um als Männer. Frauen suchen sich Hilfe, Gespräche mit vertrauten Personen, die entlasten. Männer versuchen nach Lösungen zu suchen. Die beste Lösung in der Biografie der meisten berufstätigen Männer ist: Arbeiten! Und dann noch mehr Arbeiten. Aber das ist genau der Punkt: Was, wenn es keine Arbeit, keine subjektiv sinnstiftende Beschäftigung gibt, die sich einerseits entlastend auswirkt und andererseits finanzielle und strukturelle Mittel nach sich ziehen kann, um eine Herausforderung wie „Pflege von Angehörigen“ zu meistern?
„Women get sicker, men die quicker“
Die fehlende emotionale und soziale Unterstützung bzw. die mangelnden sozio-emotionalen Bewältigungsmöglichkeiten rächen sich spätestens im Rentenalter. Natürlich unter Berücksichtigung der genetischen Veranlagung und weiterer pathogener bzw. salutogener Faktoren. Schauen wir uns die männlichen Patienten an, die entweder bereits im Rentenalter sind oder kurz davor stehen, dann stellen wir fest, dass ihre lebenslange Beschäftigung und die bisherige Arbeit ein nicht zu unterschätzender protektiver Faktor war. Hier zeigt sich erneut der sozioökonomische Status: Nicht jede Arbeit hat einen positiven Einfluss, daher wird auch nicht jeder Mann, der ins Renteneintrittsalter kommt, psychisch krank oder depressiv.
Das Problem liegt an der Kombination zwischen einer hochspezialisierten und strukturierten Arbeit und eingeschränkter emotionaler Regulationsstrategien beim Umgang mit Trauer oder Verlust. Liegen sonst Bewältigungsfertigkeiten außerhalb des Berufslebens vor? Oder hat „Mann“ alles auf eine Karte gesetzt? Naturgemäß sind es Beschäftigungsverhältnisse und Berufe, die alles abverlangen. Viel Zeit, Stress und Herzensblut. Fällt die Gratifikation, die finanziellen Mittel und die Sinnstiftung, die man durch Arbeit generieren konnte, auf einmal weg, droht eine Negativspirale. Viele Männer verpassen es in der Haupterwerbsphase stabile soziale und emotionale Beziehungen (sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie) aufzubauen. Es hängt natürlich von der entsprechenden individuellen Sozialisation ab. Trotzdem erfordern soziale Beziehungen und Bindungen, die nachweislich einen protektiven Faktor darstellen, zeitliche und emotionale Investitionen.
Auch die Suche nach sinnstiftenden Beschäftigungen bedarf Zeit. Während der Erwerbsphase war vielleicht der Hauptberuf Quelle von Sinn und teilweise auch Identität. Dies ändert sich schlagartig bei Renteneinritt. Nicht wenige Betroffene freuen sich zwar auf die Zeit, Ruhe und das ungebunden sein. Einige stellen jedoch schnell fest, dass der Sinn hinter den neuen Aktivitäten fehlt. Der eigene „Nutzen“ wird in Frage gestellt. Für einige, die Großeltern geworden sind, kann die Beschäftigung mit den Enkelkindern eine große Quelle von Sinn und Freude sein. Entwicklungspsychologisch befindet man sich in einer Phase, in der es um die Weitergabe von Wissen und Lebenserfahrung geht. Allerdings ist in der heutigen globalisierten Welt das Großeltern sein nicht automatisch sinnstiftend. Viele Familien leben regional weit auseinander. Und unregelmäßige Kontakte über Zoom sind dann doch nicht so sinnstiftend …
Ein weiterer risikoerhöhender Faktor ist die Gesundheit bei Renteneintritt. Diverse Studien zeigten, dass Männer sich nicht ausreichend um ihre Gesundheit kümmern – anders als Frauen. Daher auch der Spruch: „Women get sicker, men die quicker“. Folgeerkrankungen im Rentenalter erhöhen grundsätzlich das Risiko für eine psychische Zusatzbelastung (sekundär). Bei einigen geriatrischen Störungsbildern ist die Trennungslinie zwischen „psychisch“ und „organisch“ auch schwer zu setzen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es frühzeitige Investitionen bedarf, um ein gesundes Rentenalter zu erreichen. Es ist wie bei der wirtschaftlichen Vorsorge und der Rentenversicherung: Man fängt frühzeitig an, sich darum zu kümmern, zu sparen und Geld anzulegen. Am besten schon im mittleren Alter oder sogar früher. Keiner kommt auf die Idee, sich kurz vor Renteneintritt um seine Altersrente zu kümmern! Das gleiche gilt für emotionale und soziale Sicherheit im Alter. Es braucht Jahre, um sich eine neue Beschäftigung für das hohe Alter zu suchen und um eine sinnstiftende und Resilienz fördernde Lebensabschnittsaufgabe zu finden. Anders als im Haupterwerbsalter sollte man sich zusätzlich auf die emotionalen und sozialen Aspekte der Tätigkeit fokussieren. Denn das sind die Faktoren, die einen für den Rest des Lebens tragen können.
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