Ein elfjähriges Mädchen schwankt beim Gehen und Treppensteigen. Bei der Untersuchung fallen außerdem eine verminderte Intelligenz, ein Hallux varus und eine Mikrozephalie auf. Da kommt den Ärzten ein Verdacht.
Eine Patientin ist elf Jahre alt, als sie die Eltern beim Arzt vorstellen. Schon länger ist ihnen ein Schwanken des Mädchens beim Gehen aufgefallen. Hocken und Treppensteigen bereiten ihr ebenfalls Probleme. Hingegen gibt es keine Anhaltspunkte für Stolpern beim Gehen, für Muskelschwund, Kribbeln oder Parästhesien in den unteren Gliedmaßen. Essen, Hören und Sehen sind auch nicht beeinträchtigt. Das Gespräch mit den Eltern liefert ansonsten nichts Erhellendes, um medizinische Probleme besser einzuordnen. Eine umfassende Diagnostik folgt.
Eine genauere Untersuchung ergibt schließlich einen gewölbten Gaumen, abnorme Dermatoglyphen, einen Hallux varus und einen Pes cavus. Außerdem fallen eine Mikrozephalie, verminderte Intelligenz und eine Kyphoskoliose auf. Weitere Anzeichen der Erkrankung sind ein breitbeiniger Gang mit Ataxie und mit positivem Romberg-Zeichen, eine Dysmetrie, eine Dysdiadochokinese, eine Areflexie der unteren Gliedmaßen und eine plantare Streckreaktion.
Im MRT sehen Radiologen zwar altersgemäß entwickeltes Hirnparenchym, aber auch eine signifikante Ausdünnung des zervikalen Segments des Rückenmarks. Ein EKG zeigt eine biventrikuläre Hypertrophie. Alle anderen Befunde sind normal.
Was scheinbar harmlos mit Schwanken beim Gehen begonnen hat, entpuppt sich nach eingehender Untersuchung und nach Auswertung aller Befunde als Manifestation der Friedreich-Ataxie – insbesondere aufgrund der Kombination von zerebellärer Ataxie mit beidseitigen pyramidalen Zeichen, mit Verlust der tiefen Sehnenreflexe, Kyphoskoliose und Pes cavus.
Diese 1863 erstmals vom deutschen Arzt Nicolaus Friedreich (1825 bis 1882) beschriebene Erkrankung ist die häufigste vererbbare Ataxie. Sie macht rund die Hälfte der Fälle aus und ist autosomal-rezessiv vererbbar. In Mitteleuropa beträgt die Inzidenz 1 von 50.000 Neugeborenen. Der Anteil der heterozygoten Merkmalsträger wird auf 1 von 60 bis 1 von 120 geschätzt; genaue Zahlen gibt es nicht.
Wissenschaftler vermuten einen gemeinsamen europäischen Vorfahren vor rund 10.000 Jahren, der das mutierte Gen FXN für das Protein Frataxin auf Chromosom 9 besaß und seinen Nachkommen vererbt hat.
Charakteristisch ist eine ausgedehnte Repeat-Expansion im Gen, also eine fälschliche Wiederholung bestimmter Sequenzen. Ab 82 Wiederholungen wirkt sich die Mutation phänotypisch aus, wobei die Schwere der Ataxie von der Menge der Wiederholungen abhängig ist. Genetisch verhindert die Mutation ein effektives Spleißen der RNA, was die Expression von Frataxin vermindert. Welche Rolle dieses Protein spielt, ist noch nicht vollständig geklärt. Es kommt allerdings gehäuft in der inneren Membran der Mitochondrien vor, besonders im Kleinhirn, in Motoneuronen, Pankreaszellen und Zellen des Herzmuskels sowie in CD4-Zellen. Bei Patienten ist der mitochondriale Eisen-Stoffwechsel beeinträchtigt. Eine Anhäufung von Eisen löst wahrscheinlich den Untergang der betroffenen Zellen aus.
Histologisch betrachtet gehen bei der Friedreich-Ataxie immer mehr Axone und Neuronen zugrunde, beginnend in der Peripherie und im Rückenmark. Beim eingangs geschilderten Fall haben Neurologen vor allem eine Ausdünnung des zervikalen Segments des Rückenmarks gefunden.
Wie äußert sich dieser neuronale Untergang anhand von Symptomen?
Bleibt als Herausforderung: Viele der genannten Symptome können bei anderen neurologischen Störungen auftreten. Differentialdiagnosen sind etwa eine Vitamin-E-Mangel-Ataxie, das Charlevoix-Saguenay-Syndrom oder das Ataxie-Neuropathie-Spektrum von Bedeutung.
Molekularbiologische Tests, die Auffälligkeiten im FXN-Gen zeigen, eignen sich zum Nachweis der Friedreich-Ataxie. Andere Untersuchungsmethoden der Neurologie oder Kardiologie bilden nur einen Teil der Symptomatik ab und sind erst in ihrer Gesamtheit – wie im Fallbericht – aussagekräftig.
Wie früh die Erkrankung auftritt und wie rasch sie voranschreitet, ist hauptsächlich von der Art des Gendefekts abhängig. Meist sind Patienten vor dem 45. Lebensjahr auf einen Rollstuhl angewiesen. Als häufigste Todesursache gelten Herzkomplikationen wie eine Kardiomyopathie. Auch Diabetes mellitus als Folge der Erkrankung verschlechtert die Prognose. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 40 Jahren. Einzelne Patienten sind jedoch über 70 Jahre alt geworden.
Therapeutisch standen lange Zeit vor allem symptomatische Ansätze im Mittelpunkt: Physio- und Ergotherapien gegen die orthopädische Problematik, Gehhilfen und spezielles Schuhwerk beziehungsweise Rollstühle für mehr Mobilität, Logopädie um Aussprache, Schluck- und Atemfunktionen zu verbessern. Kardiale Beschwerden sowie ein Diabetes mellitus wurden entsprechend den jeweiligen Leitlinien behandelt.
Im Februar 2024 hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) mit Omaveloxolon (Skyclarys®) auch in Europa ein Arzneimittel gegen die Friedreich-Ataxie zugelassen. Der Wirkstoff aktiviert den Nrf2-Signalweg, was in der Zelle und in den Mitochondrien antioxidative Mechanismen in Gang setzt. Der genaue Mechanismus ist noch unklar. Der Wirkstoff hat aber Potenzial, das Voranschreiten der Ataxie zu bremsen, wie die EMA berichtet.
Eine Reihe weiterer Therapeutika, die Frataxin ersetzen sowie Gentherapien, die das defekte Gen „reparieren“, befinden sich in bereits in verschiedenen Phasen der klinischen Erprobung.
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