Mein Patient ist überzeugt, von Würmern befallen zu sein – obwohl es keine Belege dafür gibt. Dennoch kann er nicht von dem Gedanken der krabbelnden Tierchen unter seiner Haut ablassen. Lest hier, wie ich mit solchen Fällen umgehe.
Ein Blog von _docjay.
„Also, jeden Morgen sehe ich die Würmer hier die Haut entlangwandern, von meinem Unterarm nach oben, manchmal auch andersherum. Abends huste ich meistens auch welche aus, die sind so 2–3 cm lang. Ich hab Ihnen die mal mitgebracht, schauen Sie.“ Der Patient hält mir einen Plastikbecher hin, in dem sich undefinierbarer weißlicher Schleim befindet. „In dem Jahr, in dem ich Albendazol genommen hab, waren es viel weniger, aber jetzt will mir meine Hausärztin das nicht mehr einfach weiter verschreiben.“ (DANKE, Frau Kollegin …)
So geschehen am Dienstagmorgen in der Infektiologie. Ich mustere Herrn Müllers Arme, unter denen der angebliche Würmer-Pendelverkehr stattfindet und sehe bis auf zwei oberflächliche Kratzspuren – nichts. „Die anderen Kliniken haben mich nicht richtig untersucht, Sie müssen dem jetzt mal richtig nachgehen!“ Der Patient hält mir die Arztbriefe von gleich zwei der wenigen tropenmedizinischen Abteilungen in Deutschland hin. Ich überfliege sie, die ausführlichen Untersuchungen waren ziemlich richtig und enden mit dem gleichen Satz: „Es ergibt sich kein Anhalt für eine systemische parasitäre Infektion, psychosomatische Vorstellung empfohlen.“Der Patient zeigt ein Bild von einem „Wurm“, den er bei dem Essen gefunden hat. Credit: _docjay
Ich atme einmal tief durch und blicke den Patienten an: „Herr Müller, wir haben ja schon am Telefon lange über Ihre Symptome besprochen. Sie waren in zwei hervorragenden Tropenkliniken und man hat nichts gefunden. Sie waren in den letzten 10 Jahren außer in Dänemark und Italien nicht im Ausland. Ich habe Ihnen versprochen, dass wir noch einmal nachschauen – wir entnehmen diverse Blutproben, machen eine Magen- und Lungenspiegelung und schicken den Inhalt Ihres Bechers in die Parasitologie. Aber ganz ehrlich: Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie wirklich Parasiten haben, ist sehr gering. Wie werden Sie reagieren, wenn wir auch nichts finden? Könnten Sie das akzeptieren?“
Parasiteninfektionen sind mysteriös, schwer greifbar und eine Horrorvorstellung für viele Patienten. Wenn man bei diffusen Beschwerden keine Ursache findet, wird nach erfolgloser Odyssee durch verschiedene somatische Kliniken am Ende oft der Tropenmediziner kontaktiert – es könnte ja ein „Wurm“ sein. Dr. Google lässt grüßen. Dann gibt es auch Patienten, die besessen sind von der Vorstellung, sie wären von Parasiten befallen, oft verbunden mit abenteuerlichen Schilderungen von wandernden Larven unter der Haut, ausgehusteten Würmern und monatelagen (Selbst-)Therapien mit teils bizarren Medikamentencocktails oder Kaliumpermanganat-Bädern. Die erste Variante ist die harmlosere, in seltenen Fällen findet man hier tatsächlich eine Infektion oder aber es ist der letzte nötige Baustein vor einer psychosomatischen Vorstellung.
Im zweiten Fall – wie hier beschrieben – ist es komplizierter: Beim Dermatozoenwahn (oder auch Ekbom-Syndrom) werden Symptome oft detailliert und wie nach Lehrbuch geschildert, Fotoserien mit bizarren zweideutigen Nahaufnahmen und sogar vermutete Erreger in Dosen/Schachteln o. Ä. zum Arzt mitgebracht. Dafür gibt es sogar einen Namen: Matchbox Sign! Darin finden engagierte Parasitologen meistens Flusen aus Kleidern oder Schleimspuren, aber keine Würmer. Der Leidensdruck ist erheblich, die Patienten lassen sich auf ihrer häufigen Wanderschaft von Arzt zu Arzt monatelang mit Albendazol und anderen Mitteln behandeln oder bestellen diese selbst im Internet mit erheblichem Kollateralschaden. In diesem ganzen Wahnsinn gehen Arbeitsplätze verloren und Beziehungen in die Brüche. Genaue Angaben zur Häufigkeit gibt es nicht, es ist eine eher seltene Erkrankung, die aber in tropenmedizinischen Abteilungen kumuliert.
Was tun? Ernst nehmen und einmal ordentlich abklären. Dazu gehört eine genaue Anamnese, Blutabnahme mit Serologie auf die typischen Erreger, Stuhldiagnostik, ggf. auch Endoskopie (Gastroskopie, Bronchoskopie) und weitere Bildgebung (Sonographie, CT) – auch zur Differentialdiagnostik. Und dann muss man sich die Zeit nehmen, einfühlsam mit den Patienten sprechen, ihnen erklären, dass sie nicht organisch erkrankt sind und die psychiatrische Anbindung versuchen. Mit Psychotherapie und Neuroleptika kann man diesen Menschen dann nachhaltig helfen und der Wahn hat ein Ende.
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